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Die Stimme des Blutes

Titel: Die Stimme des Blutes
Autoren: Catherine Coulter
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die tief ausgetretenen Steinstufen der Wendeltreppe in den großen Saal von Tyberton hinunter. Im Saal befanden sich nur drei Männer. Einer davon war Clare. Er sprach leise mit seinem Waffenmeister, dem Schotten MacLeod. Der Graf war hochgewachsen, hatte das leuchtendrote Haar seiner schottischen Mutter und die dunklen Keltenaugen seines Vaters. Er war so bleich wie ein Toter. Gewöhnlich sprach er mit leiser Stimme, die er nur im Zorn erhob. Dann wurde es allen unheimlich. Er war ein wahrer Riese. Seine Brust hatte den Umfang eines Baumstamms. Ein roter Lockenbart bedeckte den unteren Teil des bleichen Gesichts. Daria hatte gehört, daß seine vor einem halben Jahr im Kindbett samt dem Neugeborenen gestorbene Frau ihn gefürchtet hatte. Sie war geneigt, es zu glauben.
    Sie wartete, bis er von ihr Notiz nahm. »Komm her!« befahl er. »Ich habe einen neuen Priester eingestellt. Er heißt Pater Corinthian und wird morgen die Messe für uns lesen. Er ist Benediktiner.«
    Daria trat vor. Erst jetzt bemerkte sie den Priester in seiner billigen wollenen Mönchskutte. »Pater«, sagte sie.
    »Mein Kind«, sagte Pater Corinthian. Er zog die Kapuze vom Kopf und reichte ihr die Hand. Da erlitt Daria einen Schock. Sie wollte ihre Hand zurückziehen, brachte es aber nicht fertig. Sie blickte in die dunklen Augen des Priesters und wußte, daß sie ihn kannte.
    Sie kannte ihn im tiefsten Inneren ihrer Seele. Das Erkennen kam unerwartet und verbreitete Schrecken. Dunkle Gefühle, die sie nicht begriff, überfielen sie mit solcher Stärke, daß sie zu taumeln begann. Diese furchtbare Wirklichkeit überwältigte sie völlig. Zum erstenmal im Leben sank Daria in Ohnmacht. Sie brach auf dem mit Binsen ausgelegten Fußboden zusammen.

2
    Als Daria aufwachte, sah sie Ena über sich gebeugt.
    »Alles in Ordnung«, sagte sie und wandte das Gesicht ab. Doch nichts war in Ordnung. Unbegreifliches war ihr zugestoßen. Es war erschreckend. Nein, nichts war in Ordnung.
    »Aber was ist denn geschehen, kleine Herrin? Der Graf hat Euch hergebracht. Er hat nichts gesagt. Hat er Euch böse angefahren oder Euch gar vor dem Priester geschlagen? Habt Ihr ihm eine scharfe Antwort gegeben? Hat er...«
    »Bitte, laß mich allein, Ena! Der Graf hat mir nichts getan. Ich möchte ruhen. Geh jetzt!«
    Die alte Frau schniefte und zog sich in die äußerste Ecke des Zimmers zurück. Daria schaute auf das schmale Fenster, durch das ein Streifen Sonnenlicht fiel, in dem leuchtende Stäubchen tanzten. Was ihr im großen Saal zugestoßen war, blieb unerklärlich. Der Priester, dieser schöne, junge Benediktinermönch, ein junger Mann, der Gott geweiht war ... und doch schien er ihr irgendwie bekannt. Wie konnte das geschehen? Sie begriff es nicht.
    Nur einmal war ihr in ihren 17 Lebensjahren ähnliches widerfahren, diese Vorausahnung, dieses zweite Gesicht, ein Erbteil ihrer Großmutter, die, vom Alter gebückt, auf dem Totenbett ihren Sohn und ihre Töchter verflucht hatte. Eine verrückte Alte mit wilden, zähen Haaren und wahnsinnigen Augen.
    Als Daria zwölf war, hatte ihre Mutter ihr eines Tages gesagt, daß ihr Vater sie vor dem Aufbruch ins Heilige Land noch einmal für kurze Zeit besuchen werde. Er befand sich gerade in London, wo er an einem Turnier teilnahm. In diesem Augenblick sah Daria ihren Vater vor sich, in der silbern glänzenden Rüstung auf seinem Kampfroß, schön anzusehen und doch furchterregend. Er hatte das Visier heruntergelassen, die Lanze eingelegt und stürmte zum Angriff vor. Daria sah ihn genauso deutlich vor sich, wie sie ihre Mutter sah, die sie schweigend anstarrte. Sie sah, wie seine Lanze zur Seite gestoßen wurde, wie er aus dem Sattel gehoben und in den Staub geschleudert wurde. Sie sah, wie das Pferd seines Gegners scheute, sich aufbäumte und dann mit den Vorderhufen auf dem Kopf ihres Vaters landete. Sie hörte Metall knirschen und Knochen brechen, und sie schrie bei dem Anblick, bei dem Geräusch, dem dunklen Vorgefühl, dem blutigen Schrecken des Gesichts. Und sie hatte ihrer Mutter alles erzählt. »Nein«, flüsterte die, und Daria spürte, daß ihre Mutter in diesem Augenblick Angst vor ihr hatte.
    Fünf Tage später erreichte sie die schlimme Nachricht. Drei Tage danach brachte man ihnen den toten Vater. Er wurde im Familiengrab beigesetzt, ohne daß seine Frau ihn noch einmal gesehen hätte. Denn sein Kopf war unter den Pferdehufen zerquetscht worden.
    Und jetzt war es wieder geschehen. Nur war es diesmal nicht Tod
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