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Die Stimme des Blutes

Titel: Die Stimme des Blutes
Autoren: Catherine Coulter
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Gesicht erstarrte.
    Zu ihrer großen Bestürzung empfand sie den gleichen Schock des Erkennens wie beim erstenmal. Sie fühlte sich nackt und ausgesetzt. Er schaute sie an und legte den Kopf in stummer Frage leicht zur Seite. Er hatte also bei ihrem Anblick nichts gefühlt, er mußte sie für verrückt halten.
    Rasch schlug sie die Augen nieder und begab sich stumm zu ihrem Sessel.
    Edmond von Clare nickte ihr zu, sorgte dafür, daß ihr Teller gefüllt wurde, und wandte sich dann wieder dem jungen Priester zu. Er schien nichts Ungewöhnliches bemerkt zu haben.
    Roland brauchte einige Zeit, um sich zu sammeln. Er sah, wie Daria zur Rechten Clares Platz nahm und auf ihren Teller blickte.
    Dann stellte Clare ihm eine Frage, und er antwortete. Am Nachmittag hatte er sich, nachdem das Mädchen vor ihm in Ohnmacht gefallen war, so bald wie möglich von Clare getrennt. Er hatte das große Erstaunen in ihren Augen gesehen, als sie ihn erblickte. Offenbar hatte sein Anblick, sein Händedruck einen Schock bei ihr bewirkt. Es war, als würde sie ihn wiedererkennen. Aber das war doch nicht möglich. Er hatte sie noch nie im Leben gesehen. Wäre es anders, hätte er sich ihrer erinnert.
    Sie sah nett und angenehm aus, nicht mehr und nicht weniger. Sie hatte klare, feingemeißelte Züge, die nach dem Geschmack der meisten Männer sein mußten. Ihr Gesicht sprach von innerer Stärke, von einer natürlichen Lebenskraft, die allerdings durch ihre Gefangenschaft gelitten hatte. Ihr dunkles Haar entsprach der Beschreibung ihres Onkels - es hatte die Farbe des reifen Herbstes - aber selbst das Haar schien stumpfer geworden. Sie hatte tiefgrüne Augen - heute nachmittag waren sie so dunkel gewesen wie die aufgewühlte Irische See bei Tagesanbruch. Sie war gertenschlank, von zierlicher Gestalt, und sie trug den Kopf hoch. Sie hatte die Würde einer Lady. Doch er erkannte auch, daß sich dahinter Kraft und Mut verbargen.
    Nun erschien es ihm auch verständlich, warum Edmond von Clare sie zur Frau nehmen wollte. Vielleicht spürte der Mann ein Versprechen in ihr, ihre innere Stärke. Nein, wahrscheinlich sah der Graf in ihr nur ein kerngesundes Mädchen, das ihm eine lange Reihe von Söhnen schenken würde. Wenn er Glück hatte, würde sie nicht im Kindbett sterben wie seine ersten beiden Ehefrauen. Und dann kam Roland wieder der unvernünftige Schock in den Sinn, den sie bei seinem Anblick erlitten hatte. Vielleicht war es kein Anzeichen von Geistesschwäche gewesen, sondern ihr war schlicht die Galle hochgestiegen. Er hoffte, daß es sich so verhalten hatte. Er fragte sich sogar, ob er seine Rolle schlecht spielte. Hatte sie ihn etwa durchschaut? Ihn als Lügner und Betrüger erkannt? Ihm keine Sekunde den Priester geglaubt?
    Wiederum stellte ihm Edmond von Clare Fragen, die er leicht und geläufig beantwortete, denn er hatte seine Rolle in den vergangenen beiden Wochen gut einstudiert. Fehler konnte er sich nicht erlauben. Sein Leben stand auf dem Spiel, ebenso wie ihr's. Der Name Pater Corinthian behagte ihm. Aber dieses elende Mädchen ... was war mit ihr an diesem Nachmittag losgewesen? Er mußte sie bald hier herausholen und sie dann auf schnellstem Wege heimbringen.
    Ein Schauder durchlief ihn. Er biß ein Stück von dem zu stark gesalzenen Rinderschmorbraten ab. Er mußte herausfinden, ob sie noch Jungfrau war. Er glaubte es. Soweit er Edmond von Clare bisher kennengelernt hatte, schien er ein Mann zu sein, der auf seine Ehre hielt. Das Mädchen sah keinesfalls so aus, als wäre sie mißbraucht worden.
    Nur zutiefst verwirrt sah sie aus. Roland beschloß, so rasch wie möglich zu erforschen, warum sie so bestürzt war. Den ganzen Abend über richtete Edmond von Clare theologische Fragen an ihn. Den Grafen schien besonders die Frage am Herzen zu liegen, inwieweit die Treue eines Mannes zu anderen Menschen seine Treue zu Gott beeinflussen durfte. Roland konnte rasch feststellen, daß der Graf nicht auf den Kopf gefallen war. Offenbar verbrachte er den größten Teil seiner Zeit damit, daß er sich in religiöse Dinge versenkte. Er war in dieser Hinsicht so beschlagen, daß Roland ohne seine Beredtsamkeit bestimmt mehrmals in ernste Schwierigkeiten geraten wäre.
    Schließlich sagte Clare zu ihm: »Ihr habt jetzt die junge Lady Daria kennengelernt. Ich beabsichtige, sie am 31. Mai zu heiraten.«
    »Aha«, sagte Roland. »Das bringt uns auf eine interessante Frage, nicht wahr? Die Treue eines Mannes zu seiner Ehefrau.«
    »Das ist
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