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Die Sternenkrone

Die Sternenkrone

Titel: Die Sternenkrone
Autoren: James Jr. Tiptree
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hätte man ihm auch das Urteil verkündet. Konnte es sein, daß er sich in irgendeinem östlichen Szenarium befand und auf seine Wiedergeburt wartete? Dann aber hoffentlich als menschliches Wesen, und nicht als Tier. Er war sich nicht bewußt, ein besonders schlechter Mensch gewesen zu sein, so daß er es verdiente, etwa zu einer Küchenschabe zu werden. Wenn man es ganz genau nahm, hatte er eigentlich nie etwas Böses getan – wenn man davon absah, daß er in eine reiche Familie hineingeboren war und sich bemüht hatte, noch reicher zu werden. Er hatte den Armen stets reichlich gespendet – falls das als Tugend bewertet wurde – und vielen Leuten bei der Karriere geholfen. Darauf hatte Margo schon geachtet. Warum also hielt man ihn hier fest?
    Und wo war er hier?
    Ihm fiel ein, daß es in irgendeiner Lehre einen Ort gab, den man als Vorhölle bezeichnete. Er war weder Himmel noch Hölle. Er glaubte sich daran zu erinnern, daß dort die Zweifelsfälle landeten – nicht getaufte Kinder beispielsweise. Er hoffte, daß er sich nicht in der Vorhölle aufhielt: Schon der Name dieses Ortes klang unerträglich langweilig, und die Strafen, an die er sich erinnerte, dauerten unbestimmte Zeit. Nein, die Vorhölle bitte nicht, murmelte er vor sich hin.
    Dann kam ihm eine Erklärung für die ihn umgebende Welt: Sie bestand aus den Fetzen seiner Erinnerungen, aus alten und neuen, aus bewußten und vergessenen. Alles hier entstammte seinem Geist – folglich lebte er auch in seinem Geist und durchwanderte das, was es zwar nicht gab, doch was er gesehen, gehört oder erlebt hatte. Ich wandere durch meinen Grips, murmelte er und ließ ein bellendes Lachen hören, das in der öden Straße ein irres Echo warf.
    Die Vorstellung betrübte ihn, und er konnte sie nicht wieder loswerden. Wenn dies sich als Ewigkeit erweisen sollte, drohte ihm eine Ewigkeit der Langeweile. Oder vielleicht war dies auch wie in der Geschichte, die er mal gelesen hatte: Sein ganzer Marsch hatte nur in einem winzigen Augenblick realer Zeit stattgefunden – in dem Moment zwischen dem Eindringen der Kugel und dem Stoppen seines Hirns. Dann würde er plötzlich >erwachen< – um wirklich zu sterben. Und er hatte fest damit gerechnet, der Tod würde sich als Nichtsein entpuppen, als völlige Auslöschung Amory Guilfords. Danach hatte er sich gesehnt, nicht nach einem seichten Ausflug durch zufällige Erinnerungen.
    Und warum waren hier keine Menschen? Er erinnerte sich doch auch an Menschen! Und an Verkehr. Sollte es eine Art moralischer Botschaft sein, daß er den Menschen nicht genug Beachtung geschenkt hatte? War es irgendein kitschiger Hinweis, zu bereuen? Tja, was denn? Er hatte, dachte er abwehrend, den Menschen nicht weniger Beachtung geschenkt als die meisten anderen seiner Klasse und seines Typs. Das hatte er nicht verdient – eine Einzelzelle ... Und wenn er es bereute, was brachte es ein? Dies hier war eine gemeine und sinnlose Vergeltung; es waren doch keine Menschen da, die er hätte beachten können.
    Oder war es ein Hinweis darauf, daß er wirklich wiedergeboren wurde, damit er eine zweite Chance erhielt? Er trat verärgert mit den Füßen auf. Die Vorstellung, ein hilfloser, plärrender Säugling zu sein, gefiel ihm gar nicht.
    Und dann bemerkte er etwas, das ihn erschreckte.
    Der neblige Vorhang, in dem die Straße vor ihm endete, schien näher zu kommen. Er wirbelte herum und sah hinter sich das gleiche. Jetzt waren nur noch wenige Häuserblocks zu sehen! Er zählte sie – fünf, sechs; mehr konnte er nicht ausmachen. Waren es vor ein paar Sekunden nicht noch acht oder neun gewesen? Die deutlich sichtbare Fläche, in der er sich bewegte, schrumpfte.
    O nein! Er bekam Angst; sein Puls raste. Und doch konnte er nicht mehr tun, als etwas schneller zu gehen, weil er das fürchtete, was passieren würde, wenn der Raum zu einem Nichts zusammenschrumpfte. Der Gedanke entsetzte ihn – eingehüllt zu sein im Nebel, allein mit dem eigenen Verstand.
    Konnte dies eine Art Ersatz für die Nacht sein, die schon längst hätte hereinbrechen müssen?
    Amory hatte keine Ahnung, aber er marschierte einfach weiter. Dann rannte er fast. Er hatte nur einen Gedanken: Er wollte die Stadt verlassen und in der freien Luft sein, wo ihn der Nebel, wie er verwirrt dachte, nicht so schnell einschließen konnte.
    Und plötzlich sah er, daß er wirklich aus der Stadt herauskam. Auf beiden Seiten waren nun Großtankstellen, und dann kam ein Einkaufszentrum – Zeichen
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