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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume
Autoren: David Whitley
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tauchte er sie in ein kupfernes Tintenfass und fing an, etwas auf das Stück Pergament vor ihm zu schreiben.
    Alles, was Lily hören konnte, waren das Geräusch ihres eigenen Atems und das unaufhörliche Kratzen der Feder. Der Direktor schien ihre Anwesenheit kaum wahrzunehmen. Nach einer Weile zog sie wütend die Schriftrolle mit dem verabredeten Termin aus der Schürze und legte sie vor dem Direktor auf den Schreibtisch.
    »Das ist mir sehr wohl bekannt, Miss Lilith«, sagte der Direktor, ohne aufzublicken. »Schließlich habe ich den Zeitpunkt ausgesucht.«
    »Warum wollen Sie mich sehen, wenn Sie so beschäftigt sind?«, fragte Lily. Ihre Fäuste waren geballt, aber sie bemühte sich, die Stimme nicht zu erheben.
    Der Direktor sah sie gelassen an. »Ich bin nicht beschäftigt, Miss Lily. Ich vertreibe mir nur die Zeit, bis Sie es für richtig halten, mir zu erzählen, was Sie zu mir fuhrt.«
    Lily starrte ihn verdutzt an. Seine Worte hatten sie völlig unvorbereitet getroffen, und sie versuchte, ein triumphierendes Aufblitzen in seinen betagten, tief in die Höhlen gesunkenen Augen zu erkennen, aber da war nichts dergleichen. Der Direktor gab nichts von sich preis. Lily verlangsamte absichtlich ihre Atmung, um ihr Beherrschung wiederzugewinnen.
    »Ich will die Wahrheit wissen«, sagte sie.
    Der Direktor legte die Feder nieder. »Ein schier unermessliches Ansinnen, Miss Lilith. Es gibt so viele Dinge, die wahr sind.«
    »Nicht so viele, wie es Lügen gibt.«
    Der Direktor dachte einen Augenblick nach und schüttelte den Kopf. »Dem kann ich nicht zustimmen. Die Wahrheit besteht aus allem, was es gibt. Lügen sind beschränkt auf das, was der menschliche Verstand ersinnen oder sich vorstellen kann.«
    »Das hört sich für mich nicht besonders beschränkt an.«
    Der Direktor legte die Fingerspitzen aneinander und betrachtete Lily genauer, als wollte er einschätzen, was sie wohl wert sei. Dann schien er zu einer Entscheidung gekommen zu sein.
    »Na schön. Was genau möchten Sie wissen?«
    Lily musterte ihn ihrerseits. Etwas anderes lag nun in seinem Blick. Es sah fast wie Ungeduld aus. Der Blick war ihr unangenehm, aber sie wusste, was sie sich zu sagen vorgenommen hatte.
    »Wer bin ich?«
    Der Direktor seufzte. Lily hatte den Eindruck, dass er enttäuscht war.
    »Sie kennen die Antwort auf diese Frage. Sie sind Miss Lilith, bekannt als Lily. Nicht mehr und nicht weniger als Sie selbst.« Ihre Blicke trafen sich. »Aber vielleicht ist es nicht das, was Sie mit Ihrer Frage eigentlich meinten …«
    Lily wich unwillkürlich vor seinem Blick zurück und versuchte, alles zusammenzuklauben, was sie wusste.
    »Pauldron … Als er mich in die Enge getrieben hatte, nannte er mich … Er nannte mich ›Gegenspielerin‹ …«
    »Ja, Pauldron.« Der Direktor runzelte die Stirn. »Ein äußerst bedauerlicher Vorfall. Normalerweise ist Greaves absolut verlässlich. Hätte Ihre Freundin nicht rechtzeitig Alarm geschlagen … Aber das ist ja jetzt unerheblich. Der Inspektor hat sie heute sicher hierhergebracht.«
    »Genau«, erwiderte Lily. »Aber warum sollte er mich beschützen, wenn ich doch nichts Besonderes bin? Seit ich das Almosenhaus gegründet habe, ist er ständig um mich herum.«
    »Ursprünglich bestand seine einzige Aufgabe darin, dem Direktorium von Ihnen zu berichten. Dann war Miss Rita jedoch der Meinung, dass Sie in Gefahr schweben könnten, und Greaves ist ein überaus verlässlicher Mann. Er will nie mehr wissen, als er wissen muss. Wahrscheinlich bevorzugt er eine einfache Weltanschauung.« Der Direktor machte eine Handbewegung, die in die Dunkelheit hinter Lily wies, in Richtung Ebenholztür. »Sie müssen also Verity für seine Anwesenheit danken. Sie hat ein ziemliches Interesse an Ihnen entwickelt.«
    Lily erstarrte. Der Gedanke, der seit dem Augenblick, als sie die Sekretärin des Direktors zum ersten Mal gesehen hatte, immer weiter in ihr gewachsen war, kristallisierte sich zu einer Frage. Sie wollte die Frage stellen, aber gleichzeitig wollte sie die Antwort nicht wissen. Sie nahm all ihren Mut zusammen, denn eine andere Gelegenheit als diese würde sie nicht bekommen.
    »Direktor«, setzte sie an und spürte, wie leicht ihr der legendäre Name über die Lippen kam, »ist Miss Verity … gibt es einen Grund für ihr Interesse?«
    Der Mund des Direktors zuckte. Es war mit Sicherheit ein Lächeln, auch wenn man unmöglich erkennen konnte, ob es freundlicher Natur war oder eher nicht.
    »Sie haben die
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