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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume
Autoren: David Whitley
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Ähnlichkeiten in Ihrer Erscheinung entdeckt?«
    Lily nickte. Ihr Herz schlug schneller.
    »Nein, Lily.« Der Direktor schüttelte den Kopf. »Sie ist nicht Ihre Mutter.«
    Es war dumm. Sie hatte sie erst vor ein paar Minuten kennengelernt, und sie war ihr ganzes Leben ohne Eltern ausgekommen. Trotzdem fühlte es sich an wie ein Schlag in den Magen. Als Miss Verity ihr Gesicht berührt hatte, hatte sich das gut angefühlt, so als wäre sie endlich nach Hause gekommen. Lily biss die Zähne zusammen.
    »Was nicht heißen soll, dass Sie wirklich eine Waise sind«, fügte der Direktor fast lässig hinzu.
    Lily war fassungslos. Ein solches Wechselbad der Gefühle war fast zu viel für sie. Doch sie erwiderte den Blick des Direktors, hielt seiner eisigen Gelassenheit stand.
    »Wo sind meine Eltern?«
    »Nicht hier. Draußen.«
    »Außerhalb des Direktoriums?«
    Der Direktor schüttelte den Kopf. »Außerhalb von allem und jedem, was Sie je gekannt haben. Außerhalb unserer Welt. Hinter den Stadtmauern. Außerhalb von Agora.«
    »Kann ich sie finden?«
    »Das kommt darauf an.«
    »Worauf?«
    Der Direktor sah ihr in die Augen. »Auf Ihre letzte Frage.«
    Lily öffnete den Mund, aber der Direktor hob die Hand.
    »Seien Sie nicht überrascht«, sagte er. »So mancher würde Ihnen selbst dieses Wissen verweigern. Ich hingegen bin der Ansicht, dass dieser Tausch gerecht ist. Noch ein Stück der Wahrheit, Miss Lily, noch ein bisschen Erkenntnis im Austausch für das, wovon Sie nicht einmal wissen, dass Sie es uns gegeben haben. Eine Frage noch.«
    Er legte die Fingerspitzen aneinander und wartete.
    Mit Lilys Beherrschung war es vorbei. Sie spürte den Aufruhr, der unter der Oberfläche ihres Verstandes brodelte und nur darauf wartete, sie zu verschlingen, sobald dieses Licht ihr genommen wurde. Nur noch ein Aspekt konnte beleuchtet werden, bevor sich dieses Fenster schloss.
    Und dann stieg aus all dem wogenden Durcheinander die Frage auf. Die Frage, die eigentlich die erste hätte sein sollen.
    »Was ist das Mitternachts-Statut?«
     
    Die Frage hing in der Luft, hallte hoch oben unter der Decke nach, schien das Stirnrunzeln auf den Gemälden der früheren Direktoren noch zu vertiefen. Der Direktor dachte einen Augenblick nach. Dann, als mache er sich von einem Geheimnis frei, das schon viel zu lange auf seinen Schultern gelastet hatte, erhob er die Stimme.
    »Die Gründer von Agora waren Idealisten. Sie sahen eine zwischen Extremen hin- und hergerissene Welt, und sie träumten von einem anderen Weg.« Seine Stimme war voller Ehrfurcht. »Sie hatten die Vision von einer Stadt, in der alle gleich waren – einer Stadt, in deren Herz und in deren Seele das Geben und Nehmen, der Tauschhandel und die Ausgewogenheit fest verwoben war. Einer Stadt, in der jeder über Wert und Unwert bestimmte und niemand etwas aus dem Nichts erzwingen würde. Ein Ort, an dem ihr Symbol, die Waage, als die höchste Tugend verehrt würde.« Der Direktor neigte den Kopf und rieb sich die Schläfen. »Ein schöner Traum, einer, der es wirklich wert war, dass man an ihn glaubte. Aber sie erkannten auch, wie einfach er verfälscht und zugrundegerichtet werden konnte.« Er lächelte Lily müde an. »Es gibt keinen Traum, der so stark wäre, dass die Menschen ihn nicht in den Staub treten könnten. Deshalb unterzeichneten sie in der Nacht, in der Agoras erster Stein gelegt wurde, zur Mitternachtsstunde, genau dann, wenn ein Tag den nächsten aufwiegt, das Mitternachts-Statut. Es war der ehrgeizigste Plan, den der Waage-Bund je erdacht hatte. Es war die Übereinkunft darüber, dass, wenn die Zeit gekommen war, sogar ihre eigene Stadt und ihre eigenen Träume überprüft und beurteilt werden sollten. Agora selbst sollte in die Waagschale gelegt werden und die Feuerprobe bestehen.«
    »Wie sollte sie denn überprüft werden?«, hauchte Lily.
    »Dem Statut nach würden zwei Menschen in Erscheinung treten. Der erste, der Protagonist, würde in der Stadt aufblühen und gedeihen, er würde all das ausdrücken, was Agora und das erdachte System leisten können. Der zweite, der Gegenspieler, würde die entgegengesetzte Ansicht vertreten. Auf diese Weise würden sie jede Schwachstelle, jeden Riss und jeden Fehler in ihrem wundervollen Plan erkennen und versuchen, ihn zu verbessern. Die beiden wären gleich und gegensätzlich, durch ihr Leben und ihr Schicksal miteinander verbunden. Nur durch ihre Bemühungen, ihr Ringen miteinander, ihre Urteile und ihre Versuche
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