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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume
Autoren: David Whitley
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her ging, in die Schubladen einer riesigen Kommode spähte und einen Blick auf die tickende Wanduhr warf. Zuerst hatte Lily es auf das schummrige Lampenlicht geschoben, aber je länger sie Miss Verity beobachtete, desto stärker wurde das Gefühl. Die Art und Weise, wie sie sich bewegte, wie sie redete … Dieser Frau zuzusehen, war fast so, als würde sie sich selbst sehen, nachdem zwanzig weitere Sommer vergangen waren. Während sie noch darüber nachdachte und ein merkwürdiger und zugleich wunderbarer Gedanke in ihrem Kopf Gestalt annahm, ertappte Lily Miss Verity dabei, wie diese sie ebenfalls anstarrte.
    »Stimmt etwas nicht?«, fragte Lily und kam sich irgendwie merkwürdig dabei vor. Sie war es, die in diese Welt eingedrungen war, und trotzdem war sie beinahe ruhig, obwohl das unaufhörliche Ticken der Uhr sie immer näher an die vereinbarte Zeit heranrückte.
    Miss Rita drückte einen Stapel Unterlagen an ihre Brust und atmete lang und tief aus. »Entschuldigen Sie bitte. Ich wusste nicht, was ich von Ihnen erwarten sollte.« Sie legte die Unterlagen ab und kam um ihren Schreibtisch herum. »Ich habe in den Akten einiges über Sie gelesen, aber …« Mit beinahe entrücktem Gesichtsausdruck streckte sie eine Hand aus, um Lilys Gesicht zu berühren. »Da stehen nur Daten und Fakten vermerkt … Und die konnten mich nicht darauf vorbereiten …«
    Mit sonorem Klang schlug die Uhr zwölf. Miss Verity zog die Hand zurück und strich sich das Kleid glatt. Der Augenblick war verflogen, ihre Anspannung löste sich in ein kaum merkliches Erschauern auf. Als sie wieder etwas sagte, klang ihre Stimme nüchtern und geschäftsmäßig.
    »Der Empfangsdirektor wäre jetzt für Sie bereit.«
    Miss Verity ergriff den Knauf der Ebenholztür. Sie ging nach innen auf. Lily sah Miss Verity mit einem plötzlichen Gefühl des Verlusts an, aber es schien ganz so, als sei jede Spur der Frau, die eben noch ihre Hand nach ihr ausgestreckt hatte, verschwunden und sie wieder restlos von der Sekretärin des Direktors ersetzt worden.
    Verwirrt, ein wenig ängstlich, aber fest entschlossen, es sich nicht anmerken zu lassen, trat Lily durch die offene Tür.
     
    Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an die Düsternis gewöhnt hatten. Ein paar Sekunden, bis der Marmorboden seinen stummen Glanz angenommen hatte und der Sternenhimmel der Zimmerdecke deutlich zu erkennen war. Einen Augenblick, bis die Porträts ehemaliger Direktoren in ihren vergoldeten Rahmen hervortraten und mit stolzem Blick auf sie herabsahen. Es dauerte eine Weile, bis sie den Lichtfleck ungefähr in der Mitte des Raums als vier brennende Kerzen auf einem alten Schreibtisch ausgemacht hatte.
    Sie hörte, wie die Ebenholztür leise hinter ihr geschlossen wurde und wie das Kratzen einer Schreibfeder zum Stillstand kam.
    Die Gestalt am Schreibtisch blickte auf. »Was für eine Freude, Sie endlich kennen zu lernen, Miss Lilith. Bitte, treten Sie näher.«
    Seine Stimme war leise, aber sie erfüllte das ganze Büro und schien in der Luft nachzuhallen. Lily ging auf die Stimme zu.
    Der Mann hinter dem Mahagonischreibtisch wurde nach und nach erkennbar. Er hatte die vertrockneten, welken Hände übereinandergelegt, auf seinen schmalen Lippen zeigte sich ein leises Lächeln, das weiße Haar hatte er nach hinten gekämmt, und auf seinem Gesicht lag der Ausdruck stiller Macht. Seine Augen schimmerten im Kerzenlicht. Lily schritt ehrfürchtig weiter. Am liebsten hätte sie sich verneigt, wehrte sich aber gegen dieses Verlangen. Er war einfach nur ein alter Mann. Weder strahlte er vor Pracht und Herrlichkeit, noch ragte er bis in den Himmel hinein. Seine festliche Robe war in Schwarz und Gold gehalten, aber sie war ausgebleicht und schon ein wenig ausgefranst. Selbst der Siegelring, der matt an einem Finger schimmerte, war nicht aus Gold. Er war aus Eisen.
    Der Blick des Direktors glitt über sie hinweg. Lily hatte das merkwürdige Gefühl, katalogisiert zu werden. Dann richtete er wieder das Wort an sie.
    »Wollen Sie sich nicht verneigen?«, fragte er ruhig, ohne eine Spur von Zorn oder Verdruss. »Es ist so üblich.«
    »Soll ich?«, erwiderte Lily kalt.
    Der Direktor hob eine Augenbraue. »Nicht unbedingt. Die Verbeugung selbst bewirkt sehr wenig. Es ist eher die Entscheidung, die mich interessiert.«
    »Dann lieber nicht.«
    Der Direktor nickte. Allem Anschein nach war er zufriedengestellt und nahm eine lange Schreibfeder von seinem Schreibtisch. Mit geübter Präzision
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