Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume
Autoren: David Whitley
Vom Netzwerk:
Kreis. Gezackte Formen. Sterne. Sollte er wissen, was das bedeutete? Er versuchte, sich wieder an die Geschichten seiner Mutter zu erinnern, aber es tat weh, an sie zu denken.
    Dann hörte er irgendwo unter sich das Quietschen von Scharnieren.
    Er stieg schneller voran. Fast rannte er hinauf, hangelte sich mit Händen und Füßen und mit pochendem Herzen weiter.
    Hinter sich hörte er Schritte, langsame und feste Schritte. Aus diesen modrigen Tiefen konnte nichts Gutes kommen, und er hatte das Licht schon beinahe erreicht.
    Dann sah er es.
    Über ihm stand eine dieser alten Türen offen. Aus der Öffnung strömte Licht – rosiges, orangefarbenes und goldenes Licht. Mark fiel auf Hände und Knie, versuchte, schneller voranzukommen, noch weiter hinauf. Dabei warf er einen Blick zurück. Der Schnitter war hinter ihm auf der Treppe, seine schwarze Gestalt verschmolz mit den dunkleren Schatten um sie herum. Nur noch ein kleines Stück, flehte er, nur noch ein paar Stufen. Kein Schnitter konnte in den Himmel aufsteigen. Er war an der Tür angekommen, zog sich keuchend um den Rahmen herum und warf sich in den dahinterliegenden Raum.
    Die Helligkeit schmerzte so sehr in den Augen, dass er sie zukneifen musste. Hinter der Tür lag eine Landschaft aus reinem Weiß. Und vor ihm, in gleißendes Licht getaucht, stand eine Gestalt, ein Mädchen, das mitten in den brennenden Glanz hineinblickte. Sie wandte sich um. Mark fiel auf die Knie und richtete den Blick zu Boden. Mutter hatte gesagt, wenn man einen Himmelsbewohner ansieht, ist es so, als würde einem die Seele herausgebrannt. Seine Augen brannten bereits.
    Hinter sich hörte er die Schritte des Schnitters näher kommen. Er warf sich flach auf den Boden. Der Engel würde ihn retten.
    »Sir … Wer ist das?«
    Das war nicht die Stimme eines Engels. Sie klang wachsam, zurückhaltend und eindeutig jung. Sie erinnerte Mark an seine Schwester.
    Der Schnitter stand nun hinter ihm; Mark spürte das Rascheln, als er sich über ihn beugte. »Sein Name ist Mark. Er gehört jetzt mir.«
    »Ist er krank?«
    »Nicht mehr. Ihn von der Infektion zu trennen war die einzige Lösung. Zumindest wirkt er schon wieder viel lebendiger, obwohl ich nicht weiß, warum er so verängstigt ist.«
    Verwirrt öffnete Mark die Augen einen Spaltbreit und drehte den Kopf leicht zur Seite. Der Engel stand vor dem Schnitter – er groß, in schwarzen Gewändern und mit einem gespenstisch bleichen Gesicht, sie in Weiß, abgesehen von ihrem dunklen Gesicht, dem dunklen Haar und den dunklen Händen. Mark versuchte aufzustehen, aber der Engel wandte sich zu ihm um. Er schaute ihn flehentlich an.
    »Wenn Sie erlauben, Sir«, sagte der Engel und sah Mark dabei mit seinen dunkelbraunen Augen merkwürdig an. Dann hob das Mädchen die Hand und zog dem Schnitter mit einer raschen Bewegung das Gesicht ab.
    Einen Augenblick wurde Mark wieder schwindlig, alles um ihn herum drehte sich.
    Dann kam er wieder zu sich.
    Es wurde dunkler im Turmzimmer. Die untergehende Sonne, die durch das Fenster hereingeschienen hatte, versank unter dem Fenstersims, und das Licht wurde schwächer. Das Zimmer war, wie er jetzt sehen konnte, voller Möbel, die mit weißen Tüchern abgedeckt waren. Das Gewand des Engels brannte nicht mehr vor Licht. Eigentlich war es nicht viel vornehmer als seine eigene Kleidung: bloß ein Arbeitskleid mit einer cremefarbenen Schürze. Und in den Händen hielt das dunkle Mädchen jetzt eine weiße, eigenartig geformte Maske und eine Brille mit dicken, dunklen Gläsern, die, wie Mark schon bald erfahren würde, Schutzbrille genannt wurde.
    Was den Schnitter anging, so war sein wahres Gesicht durchaus menschlich. Er war ein junger Mann mit beginnender Stirnglatze und einem dünnen Schnurrbart auf der Oberlippe.
    Mark setzte sich auf. »Lebe ich noch?«, fragte er. Seine Stimme rasselte schmerzhaft in der Kehle.
    Das Mädchen nickte. »Dank Doktor Theophilus«, sagte sie und musterte Mark einen Moment lang mit ihren dunklen Augen. Dann wandte sie sich wieder dem Mann zu. »Sir, der Graf hat in seiner Notiz mitgeteilt, dass er Sie zur fünften Stunde zu sehen wünscht. Ich habe ihm sein Essen gebracht.«
    Der Doktor verzog das Gesicht und fuhr sich nervös mit einem Finger über den Schnurrbart. »Du hast nicht zufällig darauf geachtet, in welcher Stimmung er sich befand, Lily?«
    Das Mädchen, Lily, nickte. »Doch. Ich an Ihrer Stelle wäre … taktvoll, Sir.« Sie warf Mark, der immer noch zwischen ihnen auf dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher