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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume
Autoren: David Whitley
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zu betreiben. Der Doktor ist ein guter Mensch«, sagte Lily so sanft sie konnte. Was konnte sie ihm noch sagen? Ich bin sicher, dass er einen guten Preis für dich bezahlt hat, obwohl du krank warst? Dass er dich mitgenommen hat, hat dir vermutlich das Leben gerettet? Natürlich stimmte das alles, doch ob ihm das ein Trost sein würde? Lily verschwendete keine Worte, schon gar nicht, wenn sie bloß noch mehr Leid hervorriefen. Sie war wenigstens nur von der Oberin ihres Waisenhauses verkauft worden. Sie hatte niemals eine Familie gekannt, die sie hätte verlieren können. Marks Leben war von seinem eigenen Vater überschrieben worden.
    »Lily …«
    Lily machte sich auf eine Frage gefasst, die sie nicht beantworten konnte.
    »Heißt … heißt er tatsächlich Theophilus?«
    Lily lachte. Der Knoten in ihrem Bauch löste sich.
    »Soweit ich weiß ist das ein alter Familienname. Er bedeutet so viel wie ›von Gott geliebt‹.«
    »Mama hat mir immer Geschichten von Göttern erzählt …«, sagte Mark leise.
    Lily schalt sich innerlich. Einen Moment lang war es ihr gelungen, ihn an etwas anderes denken zu lassen. Für kurze Zeit waren sie sogar beinahe fröhlich gewesen.
    »Wie auch immer …«, fuhr Lily fort und versuchte, sich dabei nicht anmerken zu lassen, dass ihr sein Stimmungswechsel nicht entgangen war. »Wie lange dauert es noch bis zu deinem Eigentag?«
    »Meinem was?«
    »Deinem Eigentag.«
    Mark sah sie noch immer verständnislos an.
    »Zwölf Jahre nach deiner Geburt«, half sie ihm auf die Sprünge. »Ein vollständiger Sternenzyklus.«
    Mark runzelte die Stirn. »Zwei Wochen«, erwiderte er. »Ist das wichtig? Mama hat gesagt, es sei ein ganz besonderer Tag, aber sie hat mir nicht gesagt, warum …«
    Lily lächelte. »Dann gehörst du ihm nur noch bis dahin. Es ist der Tag, von dem an man sich selbst gehört.« Lily schüttelte amüsiert den Kopf. »Du willst damit doch nicht sagen, dass dir noch niemand von …«
    »Dann bin ich frei?«, unterbrach Mark sie mit glänzenden Augen. »Darf ich dann wieder nach Hause gehen?«
    Lilys Lächeln erstarb. Angesichts seiner plötzlichen Begeisterung brachte sie es nicht übers Herz, ihn darauf hinzuweisen, dass sie das nicht gesagt hatte. Jedenfalls nicht direkt. »Es ist der Tag«, erklärte sie, »an dem du dich entscheiden kannst.«
    Lily glaubte nicht, dass Mark in all seinem Eifer den Unterschied bemerkte.
     
    Wahrend die Tage vergingen, sah Lily zu den Tagesstunden weniger und weniger von Mark. Der Doktor wies ihn in seine Pflichten ein, die in der Hauptsache darin bestanden, die gefährlich aussehenden Skalpelle zu reinigen und übel riechende Heilmittel zusammenzubrauen. Außerdem musste Lily sich ihren eigenen Pflichten widmen. Wie gewöhnlich wischte sie in den alten, leeren Räumen Staub, und wie gewöhnlich versuchte sie, Doktor Theophilus dazu zu bringen, wenigstens einmal am Tag etwas zu essen, und wie gewöhnlich brachte sie dem Grafen die Mahlzeiten hinauf und blieb dabei immer eine Weile vor der Tür zum Observatorium stehen, stets versucht, sie aufzumachen.
    Das Observatorium. Nur ein Mal war es Lily erlaubt gewesen, es zu betreten, um das riesige Teleskop aus Messing zu putzen. Es war tagsüber gewesen, und der Graf hatte die dicken Samtvorhänge vor die hohen ringsum eingelassenen Fenster gezogen. Der einzige Himmel, den sie hatte sehen können, war die bemalte Decke gewesen, erstarrt in einem ewigen Licht. Beim Putzen hatte Lily ein dröhnendes Schnarchen aus seinem Bett auf der anderen Seite des Zimmers vernommen. Sie hatte die schräg stehenden Sonnenstrahlen gesehen, die durch Löcher in dem uralten Stoff hereinfielen und sich vor ihr funkelnd auf dem Metall brachen. Sie hatte im Nacken ein Prickeln gespürt, das sie dazu aufgefordert hatte, sich umzudrehen, die Vorhänge aufzuziehen und auf die Stadt hinabzublicken. Es war schon verrückt: Der Graf verbrachte seine Tage in einem Zimmer voller Fenster, richtete seinen Blick aber stets nur in den Nachthimmel.
     
    Fenster zu finden war Lilys heimliche Leidenschaft. Der Turm war düster, und die meisten Fensterläden waren fest verriegelt, um die Warme nicht entweichen zu lassen. Aber sobald sie eine freie Minute hatte, schlich sie sich in das alte Schlafzimmer, das Zimmer, in dem sie Mark zum ersten Mal begegnet war. Dort gab es ein Fenster, auch wenn es kaum mehr war als ein Spalt in der Wand, gerade breit genug, um ein wenig Wind einzulassen. Schaute man dort hinaus, gab es im dichten
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