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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume
Autoren: David Whitley
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wird?«, fragte er.
    Lily dachte einen Moment nach und fragte sich, ob sie ihm erzählen sollte, dass Mark immer schluchzte, wenn er glaubte, dass alle anderen schliefen, und von den rotgeränderten Augen, die durch den Spalt blickten, wenn sie ihm das Essen hindurchschob.
    Lily blickte dem Doktor in die Augen und sah die tiefen Schatten darunter, die von den langen schlaflosen Nächten voller Arbeit herrührten.
    »Nicht mehr lange, Sir.«
    Natürlich war der Doktor nachsichtig. Von Rechts wegen hätte Mark sofort nach seiner Ankunft hier arbeiten müssen. So wie sie – sobald man ihr gezeigt hatte, wo in diesem alten Turm die Staubwedel aufbewahrt wurden. Doch sie hegte keinen Groll deswegen, denn das änderte gar nichts.
    Der Doktor seufzte. »Es wäre mir lieber, ich müsste ihn nicht so verstecken. Wenn er überall in diesem Turm umhergehen könnte, würde er sich vielleicht rascher eingewöhnen, aber …«
    Die Stimme des Doktors verlor sich. Das geschah immer, wenn er an seinen Großvater dachte. So alt er auch sein mochte, Graf Stelli hatte nichts von seinem Auftreten eingebüßt und ebenso wenig von seiner Macht. Lily legte ihr Buch beiseite und dachte über eine brauchbare Lösung nach.
    »Wenn Sie vielleicht betonen, Sir, wie wichtig er als erster Patient, der von der Seuche geheilt wurde, für Ihre Forschung ist …«
    »Wenn ich dem Alten gegenüber die Seuche nur erwähne, wirft er den Jungen in hohem Bogen auf die Straße und mich gleich hinterher«, unterbrach Theophilus sie kopfschüttelnd. »Vielleicht wäre es etwas anderes, wenn die Seuche auch die Oberen der Gesellschaft bedrohte: so jedoch halten sie meine Forschung für wertlos oder, schlimmer noch, für gefährlich.
    Sie sehen keinen Gewinn darin, eine Krankheit zu heilen, die in den Elendsvierteln der Fischer lauert, und wenn Großvater wüsste, dass ich einen damit Infizierten in sein Haus gebracht habe, auch wenn er wieder gesund ist …« Der Doktor richtete den Blick auf Lily. Seine Augen waren viel zu traurig für jemanden seines Alters. »Wieso will niemand sehen, wie viel Kummer und Leid sie verursacht?«
    Lily erwiderte seinen Blick. Auf diese Frage gab es eine Antwort, die sie beide kannten. Lily wusste, dass die blindesten Menschen die sind, die nicht sehen wollen. Deshalb hielt sie stets die Augen offen.
    Der nachdenkliche Moment wurde unterbrochen, als in der Ferne ein Glöckchen bimmelte, begleitet von einem tiefen Grollen, das wie ferner Donner klang.
    Der Doktor verzog das Gesicht. »Es scheint, als wäre der Alte aufgewacht«, sagte er entmutigt.
    Lily stand auf. »Dann will er mit Sicherheit sein Frühstück.«
    Und wie an jedem anderen Tag überließ sie den Doktor seiner Arbeit. Sein langer schmaler Schatten verschwand wieder in der Tiefe, während sie die Wendeltreppe zur Tür ganz oben im Turm emporstieg.
    Dem Doktor zufolge hatte der Graf seine Gemächer seit Jahren kaum mehr verlassen. Wie immer las sie die an sie gerichtete Notiz und befolgte die knappen Anweisungen mit peinlicher Genauigkeit. Sie schob die Holzklappe neben der Bronzetür beiseite und stellte das Schinkenfrühstück auf das darunterliegende Brett. Dann schloss sie die Luke wieder, läutete und lauschte dem Rumpeln, mit dem die Mahlzeit durch den Schacht nach oben ins Observatorium gezogen wurde. Nur ein Mal hatte sie versucht, unaufgefordert einzutreten, und manchmal glaubte sie, dass ihre Ohren immer noch von dem Gebrüll dröhnten, das ihr unmissverständlich klarmachte, dass sie nicht willkommen war.
    Seitdem hatte sie sich so etwas nicht noch einmal getraut. Sie wusste, was passierte, wenn ein Diener seinen Herrn wütend machte. Sie hatte beim Buchbinder gesehen, wie das andere Mädchen geweint und sich vergebens an den Beinen seines Herrn festgeklammert hatte. Es gab selten einen Meister, der jemanden bei sich aufnahm, der weggeworfen worden oder in Schande geraten war. »Ausschuss«, wurden sie genannt – die in Ungnade Gefallenen. Unfähig zu arbeiten, zu handeln, zu tauschen und zu leben. Auf den von der Seuche und von Dieben heimgesuchten Straßen würde sie kaum eine Woche überleben. Ihr Herr hielt ihr Schicksal in seinen Händen, und der Graf war für seine Launen bekannt. Sie hatte sich nie nach ihrer Vorgängerin erkundigt, die die Arbeitskleider vor ihr getragen hatte, und sie versuchte, nicht daran zu denken, dass sie genau die richtige Größe hatten, obwohl Lily nicht sehr groß war für ihr Alter. Eine Schürze war halb
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