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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume
Autoren: David Whitley
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Schatten des Turms bis auf ein Durcheinander aus Dächern und Mauerwerk fast nichts zu sehen. Bei Sonnenuntergang jedoch, wenn die Sonne im richtigen Winkel stand, fiel das Licht herein und wärmte ihr Gesicht. In diesem Augenblick konnte sie sehen, wie sich die Stadt von einem bedrohlichen Schatten in einen leuchtenden Wirbel aus Farben und buntem Treiben verwandelte. Dann konnte sie andere Menschen vorübereilen sehen und in der Ferne das Glitzern des Flusses Ora sowie die noch ferneren Türme des Empfangsdirektoriums. In diesen Momenten lag ihr ganz Agora zu Füßen.
    Es war das Einzige, was sie aus ihrem täglichen Einerlei herausriss. Abgesehen von den seltenen Gelegenheiten, in denen sich der Doktor einen Augenblick Zeit nahm, um sich mit ihr zu unterhalten, hatte sie gelernt, sich still zu verhalten, sich in nützliche Kleinigkeiten zu vertiefen, ihre Worte und sogar ihre nach außen hin sichtbaren Gefühle mit größter Sorgfalt zu wählen. Niemand im Waisenhaus dachte über die Stadt jenseits der Mauer rund um das Gelände nach. Für die anderen war das Waisenhaus schon immer ihr Zuhause gewesen, doch für Lily umfasste dieses Wort weitaus mehr. Es war eigenartig, sich Mark vorzustellen, umgeben von einer Familie und trotzdem so ahnungslos, was die Stadt anging, so behütet. Wohingegen sie, die niemals mit einem Erwachsenen hatte reden können, ohne gleich eine Bestrafung zu riskieren, jedes Fitzelchen Information, dessen sie hatte habhaft werden können, in sich aufgesogen hatte. Er hatte noch immer keine Ahnung, wie wichtig sein Eigentag für ihn sein würde, während sie die letzten vier Jahre ihres Lebens damit zugebracht hatte, auf ihren Tag zu warten. Auf ihre Chance, hinaus in die Stadt zu gehen und zu leben. Müde betrachtete sie den Stapel schmutziger Teller vor sich. Natürlich hatte sie so vor ihrem Ehrentag gedacht – bevor sie die Erfahrung hatte machen müssen, dass »sich selbst gehören« keineswegs das Gleiche bedeutete wie »frei sein«.
     
    An Marks Eigentag verschlief Lily. Sie hatte die ganze Nacht über Kleidung gestopft, und dieses eine Mal wurde sie nicht vom gereizten Klingeln des Grafen aus dem Schlaf gerissen. Aber als sie schließlich doch wach wurde, wusste sie sofort, warum – sogar in ihrem fensterlosen Zimmer war das Prasseln des Regens draußen zu hören. Also war es in der vergangenen Nacht nichts gewesen mit der Sternguckerei, weshalb der Graf wohl selbst noch schlief.
    Der Doktor hatte Mark zum ersten Mal mit auf seine Runde nach draußen genommen, und Lily hütete sich davor, den Grafen zu stören, solange er sie nicht zu sich rief. Also ließ sie sich in der Küche nieder, zündete eine der dicken Wachskerzen an und begann mit zusammengekniffenen Augen zu sticken. Der Graf hatte einen neuen feinen Umhang, auf den sein Symbol aufgenäht werden musste – sechs goldene, kreisförmig angeordnete Sterne. Vielleicht würde er bald Gäste empfangen. Es ging schließlich nicht an, dass der bedeutendste Sterndeuter von ganz Agora seine Gäste in einem alten Umhang begrüßte. Lily runzelte die Stirn. All das nur, weil einer in den Himmel guckte und die Zukunft voraussagte.
    Um die Mittagszeit hallte lautes Klopfen durch den Turm. Lily eilte zur Haustür, durch deren Schlüsselloch der Regen hereinspritzte, doch als sie sie öffnete, war nichts zu sehen. Auf dem Boden lag eine in braunes Papier eingeschlagene Schachtel. Lily bückte sich, um sie aufzuheben, wobei sie den Blick über die engen Straßen schweifen ließ, um vielleicht noch jemanden zu entdecken. Aber als sich ihre Hand um die Schachtel schloss, sah sie, dass mit Tinte »Mark« daraufgeschrieben stand. Die Schrift verlief bereits in dem heftigen Pladdern. Lily hielt den Atem an. Sie wusste, was das war. Es war eine offizielle Zustellung vom Empfangsdirektorium höchstselbst.
    Sie wrang ihr pitschnasses Haar aus, ging zurück in die Küche und stellte die Schachtel zum Trocknen auf den Tisch. Dann machte sie sich wieder an die Arbeit und wartete.
    Die Kerze war halb heruntergebrannt, bis sie zurückkehrten, doch Lily stand nicht auf. Sie lauschte dem Geräusch der Schritte. Sie hörte, wie der Doktor murmelte, er sei diesen Abend beschäftigt; dann wurden seine Schritte leiser und leiser, verschwanden treppab in einem der Arbeitsräume tief unten im tiefsten Keller.
    Lily blickte auf, als Mark eintrat und sich schwer auf den Holzstuhl vor dem Kamin fallen ließ. Doktor Theophilus hatte ihm einen langen schwarzen
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