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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume
Autoren: David Whitley
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Zeitlang in einem Schrank gekramt hatte, kam Lily mit Papier und einer langen, dünnen Schreibfeder zurück. Die Feder war einmal eine Gänsefeder gewesen, hatte aber all ihren Flaum längst eingebüßt und war nun lediglich eine sehr einfache Methode, mit der man Tinte aus einem Kupferfässchen aufs Papier bringen konnte. Lily schrieb sehr sorgfältig und las die Worte dabei laut mit.
     
    Ich, Lily, gebe Mark ein Buch.
    Dafür gibt Mark mir nichts, denn es ist ein Geschenk zum Eigentag.
     
    Dann nahm Lily die Kerze, hielt sie ein wenig schräg und ließ das heiße Wachs aufs Papier tröpfeln.
    »Drück den Ring hinein. So.«
    Sie suchte in ihrer Schürzentasche, zog ihren eigenen Siegelring hervor und drückte ihn ins Wachs. Als sie ihn wieder zurückzog, war der Umriss einer Blume zu sehen, einer Lilie, die einem aufgeschlagenen Buch entspross.
    »Jetzt du.«
    Mit zitternden Händen drückte Mark sein Siegel neben das ihre. Der Seestern schien ihn anzugrinsen.
    »Und jetzt?«, fragte er.
    »Nichts. Jetzt gehört das Buch dir.« Lily verspürte einen Anflug von Traurigkeit, überspielte ihn aber mit einem pfiffigen Lächeln. »Willst du wissen, wie man darin liest? Das kostet aber etwas.«
    »Das ist nicht gerecht«, grummelte Mark. »Ich kann das Geschenk nicht mal benutzen.«
    »Du kannst die Holzschnitte darin betrachten«, erwiderte Lily und übergab ihm das Buch. »Außerdem solltest du ein bisschen dankbarer sein. Mein Geschenk zum Eigentag war eine Fahrt auf einem Karren.«
    »Wohin?«
    Lily zögerte. Die Erinnerung, wie die wenigen Sachen in den Dreck flogen, die ihr gehört hatten, stieg in ihr auf. Sie hörte wieder, wie die Türen der Buchbinderei krachend zugeschlagen wurden. Sie zitterte innerlich.
    »Weg«, sagte sie dann einfach. »Die Buchbinder wollten mich nicht länger beschäftigen. Sie brauchten kleinere Finger für die Heftung. Aber ich hatte noch Glück, denn sie ließen mich noch eine Woche dort wohnen, ehe ich« – Lily lachte freudlos auf, »aufgefordert wurde zu gehen. Kommt mir inzwischen vor, als sei bereits eine Ewigkeit vergangen.«
    Marks zupfte verlegen am Einband des Buches herum. »Wahrscheinlich gewöhnt man sich daran …«, sagte er hoffnungsvoll. »Nach ein paar Jahren …«
    Lily lächelte mit zusammengepressten Lippen. »Gut möglich, aber noch kommt es mir sehr ungewohnt vor.« Sie verschränkte die Arme. »Mein Eigentag war erst vor zwei Monaten.«
    Mark sah sie verblüfft an. »Ehrlich? Ich meine … Das soll nicht heißen, dass du viel älter aussiehst als ich … Es ist nur … So wie du dich benimmst und wie du redest, erinnerst du mich … an meine Mutter … manchmal.«
    Lily zuckte zusammen. »Na großartig, vielen Dank«, sagte sie ein bisschen spitzer als beabsichtigt.
    Mark lehnte sich erschrocken zurück. »Sie war diejenige, die immer alles erklärt hat«, sagte er leise. »Sie war es, die mir Geschichten erzählt hat, die alles von mir ferngehalten hat. Sie hat mir ein Gefühl von … Sicherheit gegeben.«
    Lily atmete langsam aus. Ihr Verdruss verflog wieder. Sie zog ihren Stuhl näher an Mark heran.
    »Ich habe schon vor Jahren angefangen zu arbeiten, Mark. Als mich das Waisenhaus an die Buchbinder verkauft hat, zählte ich gerade sechs Sommer. Dabei war ich noch nicht einmal die Jüngste dort.« Lily biss sich auf die Lippe. Sie hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen. »Ich hatte weder Mutter noch Vater, nur die Oberin des Waisenhauses, und die war so abweisend, dass ich nicht einmal ihren Namen kannte.« Lily zuckte die Achseln. »Ich denke, so ein Leben lässt einen schnell erwachsen werden.« Sie beugte sich vor. »Ich will dir alles beibringen, was ich gelernt habe, Mark, und dir so gut helfen, wie ich kann. Aber deine Mutter kann ich nicht sein, und das würde ich auch nicht wollen. Nach allem, was du erzählt hast, war sie etwas ganz Besonderes.«
    Mark sah weg. »Allerdings«, sagte er.
    Eine Weile hing jeder seinen Gedanken nach. Mark starrte auf den Siegelring, Lily auf Mark. Sie wusste nicht, was er dachte.
    »Dann …«, sagte Mark schließlich, »gehöre ich also nicht mehr dem Doktor?«
    »Bis dahin ist noch eine Woche Zeit. Sie lassen einem eine Woche, um etwas Neues zu suchen.«
    »Und dann verkauft man sich an jemand anderen?«
    »Wir verkaufen unsere Dienste; das ist alles, was wir haben.« Lily rollte den Vertrag auf. »Mehr Geschenke gibt es nicht, Mark. Nie wieder.«
    Schweigen.
    Dann fragte er: »Was sollen wir bloß tun,
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