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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume
Autoren: David Whitley
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dem von seinem Großvater. Auf seinem jedoch waren zusätzlich zwei Schlangen zu sehen, die sich um einen Stab wanden. Das war das Symbol der Heiler.
    Es war auf eigenartige Weise tröstlich, ein eigenes Siegel zu besitzen. Manchmal, wenn er im Bett lag, ließ er seinen Kerzenstummel noch ein bisschen länger brennen und betrachtete den kleinen Messingring vor dem Einschlafen. Der Seestern schien sich im zuckenden Licht zu bewegen. Mark kam es vor, als entdecke er eine ganz neue Seite von sich, als wäre er, wie jeder andere auch, mit nur einem Namen eingeschlafen, aber mit hundert Namen wieder aufgewacht. Er war nicht mehr bloß Mark. Er war Mr Mark mit dem Seesternsiegel, der Gehilfe von Dr. Theophilus. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl zu wissen, wer er war.
    Der Turm war nicht perfekt. Mark musste sich immer noch jedes Mal verstecken, wenn die Glocke des Grafen klingelte. Obwohl der Alte sein Observatorium schon seit Jahren nicht mehr verlassen hatte, wurden keine neuen Diener zugelassen, schon gar nicht, wenn sie womöglich ansteckend waren.
    Mark hatte Lily gefragt, wie sie es geschafft hatte, in seine Dienste aufgenommen zu werden. Sie hatte matt gelächelt, ehe sie antwortete. »Ich habe ihm geschrieben. Ich habe geschrieben, dass ich für den großen Grafen Stelli arbeiten wolle, habe gesagt, dass ich jedes seiner Bücher gelesen hätte.« Sie hatte gekichert, was sie selten tat. »Was sogar beinahe stimmte. Es gibt nicht viel Lesenswertes, wenn man in der Astrologie-Abteilung arbeitet. Seiner Antwort lag der Vertrag gleich bei, schon mit dem Siegel darauf. Den hab ich dem Eintreiber auf dem Weg zum Turm gegeben.« Sie hatte kurz den Blick gesenkt. »So richtig habe ich ihn noch nie gesehen und auch kaum mit ihm gesprochen. Er schreibt mir immer kurze Mitteilungen. In der ersten stand, dass er davon Gebrauch machen wolle, dass ich lesen kann.«
    Lily. Er hatte noch einmal über sie nachdenken müssen. Ein Engel war sie gewiss nicht; Engel mussten keine Klos saubermachen. Trotzdem war es noch immer so, als wäre sie geradewegs einem dieser Märchen entstiegen, die ihm seine Mutter immer erzählt hatte. Dort unten am Hafen hatte er ein paar andere Kinder gekannt – ab und zu hatten sie einander mit Schlamm beworfen –, aber Lily war ganz anders als sie. Trotz ihrer Ernsthaftigkeit konnte sie sehr lustig sein, und am Abend, wenn sie beide ihre Arbeit verrichtet hatten, war sie stets bereit, mit ihm zu reden oder die alten Zimmer mit den abgedeckten Möbeln zu erforschen. Wenn er es schaffte, sie zum Lachen zu bringen, war das immer ein Gewinn. Er hatte herausgefunden, dass er mithilfe von ein paar Staubtüchern und ein wenig improvisiertem Gestöhne so tun konnte, als spuke es im Turm. Damit entlockte er ihr immer ein Kichern, obwohl er sich nie ganz sicher war, ob sie über das Spiel lachte oder darüber, wie lächerlich er dabei ausgesehen haben musste.
    Wenn er ihr jedoch bei Tage über den Weg lief, wenn sie ihn nicht erwartete, dann war alles anders. Ehe sie ihn grüßte, hielt sie dann immer einen Augenblick mit dem inne, womit sie gerade beschäftigt war – meist Kochen oder Saubermachen –, und sah ihn an, als tauche sie aus Gedanken auf, die viel tiefer waren als alles, was er kannte. In diesen Momenten fielen ihm ihre Augen am meisten auf. Dunkle Augen, genau wie ihre Haut. Er wusste, dass sie keine Geheimnisse vor ihm hatte, sie sprach stets offen mit ihm, und Doktor Theophilus hielt große Stücke auf sie, doch manchmal fand Mark sie zermürbend. Seine Mama hatte ihm einmal von einem uralten Geist erzählt, der einem mit seinem Blick die Seele heraussaugen konnte. Er musste Augen haben wie Lily.
    Die Geschichten seiner Mama waren ganz anders als die in Lilys Buch. Im Laufe der Wochen und unter Lilys Anleitung nahmen die Buchstaben, Wörter und Sätze für ihn nach und nach Gestalt an. Mark stellte fest, dass in Lilys Sammlung weder Helden noch Dämonen vorkamen. Einmal mühte sich Mark sogar mehrere Tage mit einem Absatz, bei dem es, wie sich schließlich herausstellte, nur darum ging, wie man einen Hammelfleischauflauf zubereitete.
    »Hast du nicht gesagt, das ist ein Geschichtenbuch?«, brummte er missmutig und sah vom Text auf.
    Lily seufzte. »Ist es auch. Dieser Auflauf ist wichtig, weil der Sohn, um ihn zuzubereiten, das Fleisch stehlen musste, sonst wäre seine Mutter gestorben. Deshalb kommen die Eintreiber zu ihnen.«
    Mark erschauerte. »Mir gefallen die alten Geschichten besser. Da
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