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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume
Autoren: David Whitley
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das, was er tat?, dachte Lily.
    »Sehen Sie sich vor, Direktor«, sagte Ruthven eisig. »Sie mögen diese Stadt regieren, aber ich bin der Vorsitzende des Waage-Bundes, und wir haben die Macht, sie abzusetzen, wenn …«
    »Sie waren es!«
    Stille. Beide Männer drehten sich zu Lily um. Einen Moment lang zweifelte sie an sich, aber dann redete sie weiter in das Schweigen hinein. Es war, als hätte sie eine neue Kraft in sich entdeckt, die ihr noch nie zuvor bewusst gewesen war. Dabei sah sie Lord Ruthven mit festem Blick an.
    »Damals im Uhrwerkhaus, als Pauldron versucht hat, mich umzubringen, hat er etwas gesagt. Etwas, aus dem ich damals nicht schlau wurde.« Sie senkte die Stimme, ohne den Blick von ihm abzuwenden. »Er nannte mich ›Gegenspielerin‹ und sagte, ›höhere Mächte‹ hätten ihm die Wahrheit offenbart.« Mit wachsender Selbstsicherheit trat sie näher. »Damals, auf Marks Ball, haben Sie Pauldrons Reinheit gelobt, seine Hingabe an Agora. Sie haben ihm diese Geheimnisse anvertraut, nicht wahr, Mylord? Sie haben ihm das Mitternachts-Statut gezeigt, weil Sie ihn als Protagonisten haben wollten. Deshalb hat er Mark einen Betrüger genannt. Deshalb wollte er mich aus dem Weg schaffen.« Erschrocken über ihre eigene Erkenntnis, hielt Lily kurz inne. »Und genau das hat ihn in den Wahnsinn getrieben.«
    Eine lange Pause entstand. Lord Ruthven stand wie erstarrt da und schien vor ihren Augen zu altem.
    Der Direktor erhob sich langsam von seinem Stuhl. »Ist das wahr?«, fragte er. Seine ruhige Stimme erfüllte den gesamten Raum. Es wäre unmöglich, diese Stimme anzulügen.
    Ruthven richtete sich steif auf. »Pauldron war weitaus geeigneter als dieser Junge«, sagte er nüchtern. »Er war ein Mann, der seine Stadt abgöttisch liebte.« Er stockte, blickte beiseite, »Ich … Ich konnte nicht vorhersehen, dass es seinen Verstand dermaßen aus dem Gleichgewicht bringen würde.«
    »Sie haben ihm das gesamte Statut gezeigt?«, fragte der Direktor mit unterdrücktem Zorn. »Ist Ihnen denn nicht bewusst, Ruthven, wie schrecklich es sein muss, es zu lesen, wenn man den Traum einer idealen Stadt mit der mangelhaften, unfertigen Wirklichkeit verwechselt? Was für eine grauenhafte Ungewissheit – genug, um jemanden, dessen gesamtes Leben auf der Liebe zu dieser Stadt gründet, auf den Pfad der Dunkelheit zu führen. Schon um die eigene Vision der Vollkommenheit zu schützen, indem man diejenigen vernichten will, die sie auf die Probe stellen.«
    »Ich tat es, um unsere Stadt zu erhalten!«, fuhr Ruthven auf. »Er war stärker als das Mädchen! Er hätte den Kampf gewonnen, hätte den Beweis erbracht, dass der Ruhm Agoras unvergänglich ist.« Seine Stimme wurde leiser, eindringlicher. »Das Statut besagt, dass diese beiden, trotz ihrer Machtlosigkeit, Agora für immer verändern werden.« Mit hasserfülltem Blick wandte er sich an Lily. »Ich habe Agora über fünfzig Jahre treu gedient, habe mein ganzes Leben in den Dienst unserer Stadt gestellt. Ich werde nicht zulassen, dass das von zwei unwissenden Kindern zerstört wird.«
    Die darauf folgende Stille schien endlos zu sein. Lange starrte der Direktor Ruthven mit unergründlicher Miene an.
    Dann erhob der Herrscher von Agora mit großer Strenge die Stimme.
    »Sie können sich glücklich schätzen, Ruthven, dass ich keinen öffentlichen Skandal wünsche«, sagte er. »Ich werde nicht verlangen, dass Sie sofort als Lordoberrichter zurücktreten. Sie werden sich Zeit lassen, um einen geeigneten Nachfolger zu suchen. Alles wird so über die Bühne gehen, als hätten Sie beschlossen, sich zur Ruhe zu setzen. Aber vor Ablauf eines Jahres haben Sie Ihren Posten verlassen, Ruthven. Andernfalls, Skandal hin oder her, werde ich mein Schweigen brechen. Ich werde der ganzen Stadt erzählen, dass Sie den Verstand eines Eintreibers so vergiftet haben, dass er eine junge Frau umgebracht hat. Und dann …« Nach einer kurzen Pause fuhr er, jedes einzelne Wort betonend, fort: »Dann wäre Ihr guter Ruf ein für alle Mal ruiniert.« Der Direktor setzte sich wieder. In seinem Gesicht spiegelten sich Enttäuschung und Abscheu. »Und jetzt verschwinden Sie.«
    Aus Ruthvens Gesicht wich jegliche Farbe. Er räusperte sich, wollte etwas sagen, aber der Direktor weigerte sich, ihn anzusehen. Ruthven wandte sich an Lily, doch auch sie drehte den Kopf zur Seite und starrte an die Wand. Von ihr würde er keine Hilfe bekommen. Kurz darauf hörte sie seine langsamen Schritte, hörte,
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