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Die Spinne (German Edition)

Die Spinne (German Edition)

Titel: Die Spinne (German Edition)
Autoren: Olen Steinhauer
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Gruppe einfach zu unberechenbar war. Alan überlegte, ob er sich ahnungslos stellen sollte, doch Hoang hatte seinen Atem noch nie auf müßige Spekulationen verschwendet. »Woher weißt du das?«
    »Das sind die Einzigen, die noch übrig sind. Zumindest die Einzigen, die verzweifelt genug sind für einen bewaffneten Kampf. Da kommst du daher, einer ihrer früheren Geldgeber, und sagst ihnen, dass die Zeit reif ist für einen Aufstand gegen Peking.« Er verstummte und starrte auf die vorbeiwischenden Laubbäume. »Für solche Leute ist das berauschend, auch wenn sie genau wissen, dass sie zum Scheitern verurteilt sind.«
    »Zum Scheitern sind nur die verurteilt, die nichts riskieren.«
    »Mann, hast du das in einem Buch gelesen?« Zum ersten Mal, seit Alan ihn kannte, klang Hoang aufgebracht. »Glaubst du, einer von denen hat auch nur fünf Minuten über die Revolution hinausgedacht? Das sind doch alles Selbstmörder. Vielleicht streben sie nach Freiheit, vielleicht auch nicht, aber was sie miteinander verbindet, ist, dass sie an einer großen Sache beteiligt sein wollen, um ihrem erbärmlichen Leben einen Sinn zu geben. Wenn man denen ein Land überlässt, erschießen sie sich wahrscheinlich. Im Grunde haben diese Leute nur ein Ziel, Alan: den Märtyrertod. Und genau den wirst du ihnen bringen, weil das Ganze voll in die Hosen gehen wird.«
    Überwältigt von dem ungewohnten Wortschwall brauchte Alan eine Weile, um sich zu besinnen. »Warum hilfst du mir dann?«
    Auf Tran Hoangs Gesicht erstrahlte ein äußerst seltener Ausdruck: ein breites, offenes Lächeln, das eine Reihe großer, zum Teil schiefer Zähne zum Vorschein brachte. »Wer sagt, dass ich nicht auch den Märtyrertod suche?«
    Mit zusammengekniffenen Augen spähte Alan auf die unter der sinkenden Sonne dunkler werdende Straße. Auch zwei Tage später, nach der Ankunft in Hongkong, nach der Anmeldung und dem Kleidertausch mit dem Touristen im Treppenhaus des Peninsula, nach seinem Treffen mit einer Chinesin, die sich als Hu vorstellte, und nach dem Warten auf den Einbruch der Dunkelheit, um an Bord eines Fischerboots nach Xiayong zu gehen, wurde er den Gedanken nicht los, dass Tran Hoang vielleicht noch verrückter war als er.

3
    Über einen Monat lebte er mit ihnen zusammen. Das war vielleicht ein Fehler. Er schlief in ihrer Mitte, er aß und putzte und machte mithilfe eines Dolmetschers sogar Witze mit ihnen. Er hatte ihre Frauen und Babys kennengelernt, die in den Wäldern hausten, und Geschichten über Ungerechtigkeiten gehört, die so himmelschreiend waren in ihrer Menschenverachtung, dass er sich nicht dazu überwinden konnte, seine eigenen Erzählungen beizutragen. Verglichen mit ihrem Schicksal war er ein Zwerg, und bisweilen schämte er sich für das Selbstmitleid, das ihn hierhergetrieben hatte. Doch jetzt gab es keinen Ausweg mehr. Nach seiner Ankunft hatte er den Anführer Li Qide wissen lassen, dass es bald geschehen musste, nur hatte bald in den Wäldern eine völlig andere Bedeutung. Außerdem hielten sie es für sinnlos, vor den Spielen etwas zu unternehmen, die jeder Aktion, auch einer gescheiterten, eine viel breitere Wirkung ermöglichen würden. Er versuchte, Li Qide umzustimmen, doch wie konnte er angesichts ihres Leids darauf verweisen, dass er einfach nur zu seiner Frau zurückwollte?
    Einen Monat lang hatte er mit niemandem außerhalb des Lagers Kontakt, und mit der Zeit wurde sein eigener Zorn von ihrem verdrängt. Er übte nicht mehr Rache für seine eigene Schmach, sondern für die Demütigung der Menschen, denen er sich angeschlossen hatte. Inzwischen war er vertraut mit ihren Gerüchen: das beißende Bratöl, der Pferdemist und die schäbigen Klohäuschen, menschlicher Schweiß vermischt mit dem Aroma von Kiefern und Fichten, der Gestank von sauer eingelegtem Gemüse und verkohltem Huhn.
    Und dann kam endlich der 8. August. Eine fast dreitägige Reise lag hinter ihm. Mit dem Pferd nach Leishan, dann per Anhalter nach Guiyang, wo er einem Führer vorgestellt wurde, der ihn bis nach Zhengzhou brachte. Dort stieg er in einen klapprigen, alten Mercedes und fuhr dank einer Landkarte mit englischen Anmerkungen allein weiter. Er stieß auf drei mit nervösen Soldaten besetzte Straßensperren, doch mit seinem amerikanischen Pass auf den Namen George Miller und dem großzügigen Verteilen von Marlboro-Schachteln kam er reibungslos durch.
    Dafür waren die Straßen übersät mit Schlaglöchern und zerfurcht wie Gebirgszüge, sodass er
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