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Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Titel: Die Spieluhr: Roman (German Edition)
Autoren: Ulrich Tukur
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war Deutscher, müssen Sie wissen, Offizier der Armee, die uns vier Jahre lang besetzt hielt. Keiner der hier einquartierten Soldaten hat sich unter seinem Kommando schlecht benommen.
    Mein Vater lebte noch, und wir gingen unserer Arbeit nach, bestellten die Felder, ernteten, und abends saßen wir am Kamin. Er spielte Beethoven und Schubert auf einem Pleyel-Flügel, den er sich aus Paris hatte kommen lassen, oder trug eine Fabel Lafontaines aus dem Gedächtnis vor …
    Als er kurz vor Ende des Krieges in den Strudel der Ereignisse um den Kommandanten von Paris gerissen wurde und nach dem gescheiterten Anschlag auf den deutschen Diktator um sein Leben fürchten mußte, hat er sich hier im Schloß versteckt und ist freiwillig in den Tod gegangen. Er hieß Friedrich von Rotha und stammte aus einer alten preußischen Familie.
    Manchmal erzählte er von seiner Kindheit, die er sorglos und wild auf dem elterlichen Gut in Masuren verbracht hatte.
    Es muß ein Paradies gewesen sein, wie es ja auch bei uns damals eines war …
    Aber vermutlich langweile ich Sie, junger Mann, ich rede zu viel, es kommt ja hier selten jemand vorbei … Ich zeige Ihnen jetzt Ihre Kammer. Was auch geschehen mag heute nacht, verlassen Sie sie nicht! Berthe hat dort geschlafen, meine Haushälterin, die zu mir kam, als meine Frau starb. Es war immer das Zimmer unserer Dienstmädchen.
    Als ich noch ein Kind war, hat dort für kurze Zeit eine Magd gewohnt, eine seltsame Person, die später eine berühmte Malerin geworden sein soll …
    Hier, nehmen Sie den Leuchter! Es gibt keinen elektrischen Strom, dazu habe ich nicht das Geld.‹
    WIR STIEGEN EIN TREPPENHAUS hinauf, in dem es sehr stickig war.
    Der Marquis blieb einige Male stehen, um Luft zu holen, so daß ich Gelegenheit hatte, die Bilder zu betrachten, die an der Wand hingen.
    Es waren Portraits von Menschen, die wohl zur Familie der Montragues gehörten. Damen mit blassen Puppengesichtern und turmhohen Frisuren, in die Blumen, zierliche Vögel, ja sogar Miniaturschiffchen eingeflochten waren, und Männer mit weißen Allongeperücken und rotgeschminkten Wangen und Mündern, die jedes Lächeln vermieden.
    Im flackernden Licht der Kerzen zwinkerten sie mit den Augen, rissen sie auf und schlossen sie wieder, auch schienen sie sich zu bewegen, so daß ich fürchtete, der eine oder andere könnte sich womöglich aus dem Rahmen beugen und mir auf den Kopf spucken oder mit kalter Hand übers Haar streichen.
    Als wir am Ende der Treppe angekommen waren, fragte mich der Marquis etwas außer Atem: ›Sie haben mir immer noch nicht erzählt, was Sie eigentlich machen, junger Mann!?‹
    Ich sagte ihm, daß ich in der Filmbranche arbeite, als Regieassistent, und daß wir ganz in der Nähe einen Kinofilm drehen, in dem es um eine Putzfrau geht, die große Blumenbilder malt. Sie wird am Ende berühmt und verfällt dem Wahnsinn …
    Und dann hatte ich plötzlich die Idee, ihn wissen zu lassen, daß wir nach einem Ort suchten, der ihr Zimmer sein könnte, und man ihm unbedingt ansehen müßte, daß ein Mensch ein halbes Leben darin gehaust hätte.
    So etwas sei schwer zu finden, und auf der Suche danach hätte ich mich verfahren und wäre hier in seinem Schloß gelandet.
    ›Ach, sie endete also im Wahnsinn, Ihre …‹
    Der Marquis stand mit dem Rücken zu mir vor einer schlichten Holztür, die Hand auf der Klinke.
    Als er sich umwandte, erschrak ich.
    Er hatte sich plötzlich in einen Arzt verwandelt, wie er in einem Krankenhaus Dienst tut. Zwar besaß er noch das Gesicht des Marquis, war aber viel jünger, wirkte gepflegt und trug einen weißen Kittel.
    ›… Séraphine? Nein, mein Herr, ich halte es für keine gute Idee, sie heute zu besuchen. Sie hatte letzte Nacht einen schweren Anfall, wir haben sie festbinden müssen und ihr Beruhigungsmittel gegeben. Glauben Sie mir, wir sind froh, daß sie jetzt schläft. Ihre Wahnvorstellungen werden von Mal zu Mal schlimmer. Einmal verkündet sie den Weltuntergang, dann wiederum glaubt sie, sie sei die Frau eines spanischen Hauptmanns oder ein Engel habe um ihre Hand angehalten.
    In letzter Zeit redet sie oft von einem jungen Mann, der ihr bestimmt sei und sich auf dem Weg zu ihr befinde, aber mit Gewalt immer wieder daran gehindert werde, sie zu erreichen.
    Leider ist das alles ziemlich hoffnungslos …
    Was ist mit Ihnen, junger Mann?
    Sie sehen ganz blaß aus, legen Sie sich hin und ruhen Sie sich aus!‹
    Mir war schwarz vor Augen geworden, ich hatte sie
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