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Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Titel: Die Spieluhr: Roman (German Edition)
Autoren: Ulrich Tukur
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Paris, hat das Tribunal davon überzeugen können, daß es eine Sünde sei, eine solche Künstlerin zu enthaupten.
    Also hat man ein Cembalo in den Saal tragen lassen und sie aufgefordert, ihre Fertigkeit unter Beweis zu stellen.
    Sie spielte die Marseillaise so rauschend und gewaltig, daß ihr die revolutionäre Meute begeistert zujubelte und auf der Stelle die Freiheit schenkte.
    Vermutlich hat auch ihre Schönheit ein wenig geholfen …‹
    Die Augen des Marquis hatten einen unwirklichen Glanz angenommen, sie leuchteten geradezu.
    Ich blickte von einem Auge zum anderen und blieb schließlich an seinem rechten hängen, das mich nicht mehr losließ und mit magischer Kraft einsog.
    Auf einmal hatte ich das Gefühl, in seiner Iris würde sich etwas verschieben, sich drehen und weiten, Schatten tauchten auf, die Pupille zuckte und sprang, ein Äderchen platzte – und plötzlich sah ich auf den Grund eines Auges, das jemand ganz anderem gehörte …«
    JEAN-LUC SCHWIEG. Vielleicht hatte er das Gefühl, die anderen, die bis jetzt still zugehört hatten, könnten ihm nicht mehr folgen oder würden tatsächlich denken, er sei verrückt.
    Er starrte zu Boden und zitterte leicht, aber ich glaube, daß es niemandem außer mir auffiel.
    »Mein Gott, Bonnard!« stöhnte Philippe.
    Er war aufgesprungen und schlug sich mit der Hand an die Stirn.
    »Ich glaub’ das alles nicht, in welchem Irrenhaus bin ich hier gelandet? Agathe, bring ihm einen Kaffee! Schaut ihn euch an, der hat ja nicht mal geschlafen …«
    Dann setzte er sich wieder hinter seinen Schreibtisch, steckte sich eine Zigarette in Brand und sah fassungslos auf seinen Assistenten. Trotzdem schien ihn die Geschichte zu interessieren.
    »Also, was ist los? Erzähl weiter, aber vielleicht kommst du bald mal auf den Punkt, wir wollen um acht Uhr drehfertig sein!«
    Agathe reichte Jean-Luc eine Tasse mit heißem Kaffee und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
    Der sah sie dankbar an und nahm einen Schluck.
    »… WIE SOLL ICH EUCH das erklären?«
    Jean-Luc dachte nach, und man sah förmlich, wie ihm die Gedanken im Kopf herumwirbelten und sich nur schwer fassen ließen.
    »Es war … vielleicht … wie in einem Film, in dem die Kamera langsam zurückfährt, und während das Cembalo zur dramatischen Begleitmusik wurde, enthüllte sich mir ein zweites Auge und dann Stück für Stück das Gesicht einer Frau, bis sie schließlich ganz zu sehen war.
    Sie saß an einem Spinett und war in ein prachtvolles Rokokokostüm gekleidet. Ihr linker Arm, weiß und makellos wie der Hals eines Schwans, ruhte auf der Tastatur, während sie in der Rechten ein Notenblatt hielt.
    Als die Kamera stillstand, sah ich im Hintergrund einen streng symmetrisch angelegten Schloßpark, der unter einem leuchtenden Sommerhimmel lag. Nichts bewegte sich. Es war ein Gemälde, auf das ich blickte!
    Ich sah nur dieses Bild. Und so alt es mir schien, es offenbarte doch die überwältigende Schönheit einer Frau, deren Zauber mir den Atem nahm.
    Plötzlich legten sich Hände auf ihr Gesicht, und es war verschwunden.
    Die Leinwand wurde am Rande des Rahmens mit Messern aufgetrennt und hastig herausgerissen.
    Dahinter – als wäre es eine zweite Schicht – kam ein Saal zum Vorschein, eingerichtet im aufwendigen Stil jener Zeit. Eine hohe Türe flog auf, wobei der rechte Flügel aus den Angeln brach, und eine Horde von Menschen stürzte herein, die in abenteuerlicher, abgerissener Kleidung, barhäuptig oder mit phantastisch bunten Kopfbedeckungen bald den ganzen Raum bevölkerte.
    Ich dachte, was für ein großartiger Kostümfilm, und wie rasant er geschnitten ist!
    Ein Kristallüster stürzte von der Decke, Schränke wurden umgeworfen, Fenster eingeschlagen, Vorhänge heruntergerissen, Staub wirbelte auf, Porzellan zerbrach polternd am Boden, ein Wandspiegel zerbarst mit einem Paukenschlag.
    Als würde eine rasende Bewegung plötzlich angehalten, deren Beschleunigung ich noch als Nachhall in mir spürte, verstummte die Musik, die immer gewaltiger geworden war, und auch die Bilder waren plötzlich verschwunden.
    Ich sah wieder das Auge des Marquis und hörte seine Stimme:
    ›Als Marie-Élisabeth nach Montrague zurückkehrte, hat sie es kaum wiedererkannt, durch die eingeschlagenen Fenster wehten zerrissene Vorhänge. Der Pöbel hatte vor der Zeit ruiniert, was doch eigentlich der Natur vorbehalten war …
    Wie sagte der Major?
    Denn alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht …
    Er
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