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Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Titel: Die Spieluhr: Roman (German Edition)
Autoren: Ulrich Tukur
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geschlossen, denn ich dachte, das alles könne nur ein verworrener Traum sein …«
    ALLE IM BÜRO HATTEN gebannt Jean-Lucs Worten gelauscht und schraken jetzt regelrecht auf, als er seine Geschichte unterbrach und um eine zweite Tasse Kaffee bat.
    François flüsterte Philippe etwas zu und verließ kopfschüttelnd den Raum, Agathe brachte Kaffee, den sie reihum ausschenkte.
    Jean-Luc war in sich zusammengesunken, nach einer Weile hob er den Kopf und sah Philippe fragend an.
    Der blies die Backen auf und zuckte mit den Schultern.
    Dann aber nickte er ihm zu.
    »ALS ICH MEINE AUGEN AUFSCHLUG, stand wieder der Marquis in der offenen Türe, als hätte es den Irrenarzt nie gegeben.
    Hinter ihm lag ein stickiger Raum, schwarz wie eine Totengruft.
    Ich trat einen Schritt hinein und hob den Kerzenleuchter in die Höhe. Allmählich schälten sich Gegenstände aus dem Dunkel, seltsames Treibgut aus Schatten und Traum: wurmstichige Dachbalken, von denen getrocknete Blumen und Kräuterbüschel hingen, ein Schrank mit blindem Spiegel, ein schweres Holzbett, in einer Nische ein ovales Dachfenster, dessen Scheibe zur Hälfte mit Karton verklebt war, darunter ein Tisch mit Stuhl und eine kleine Kommode, vollgestellt mit kuriosem Krimskrams. An der Wand hing ein Kruzifix, daneben ein gerahmtes Bild der Mutter Gottes.
    ›Was ist aus Ihrer Malerin geworden?‹ wollte der Marquis wissen, der immer noch in der Türe stand und mich aufmerksam beobachtete.
    ›Sie hat die Psychiatrie von Clermont-de-l’Oise nicht mehr verlassen‹, antwortete ich, ›und ist dort gestorben. In unserem Film klettert sie am Ende in einen riesigen Lindenbaum und verschwindet wieder in der Natur, aus der sie ja kam …‹
    Er sah mich lange an, als versuchte er zu verstehen, was ich gesagt hatte.
    Und auf einmal kam mir der Gedanke, daß er vielleicht gar nicht wußte, was ein Film war, daß er nie ein Kino gesehen und auch sein Schloß nie verlassen hatte …
    ›Ein schönes Bild‹, sagte er plötzlich, ›und fast möchte ich sagen – ein poetisches Ende … Wenn Ihnen also diese Kammer gefällt, dann können Sie sie für Ihren … Film haben. Ich verlange kein Geld dafür, ich möchte nur, daß Sie diesen Raum vor Sonnenaufgang nicht wieder verlassen! Das Nachtgeschirr befindet sich unter dem Bett. Schlafen Sie gut!‹
    Die Tür fiel ins Schloß, und der Marquis war verschwunden.
    Ich sah mich um, und mir war, als stünde ich wirklich in Séraphines Kammer, genau so hatte ich sie mir immer vorgestellt.
    Ich hielt den Leuchter etwas näher an das Bild der Mutter Gottes. Es handelte sich um eine der sentimentalen Mariendarstellungen, wie sie früher in fast jedem Haushalt zu finden waren.
    Das weiche Gesicht der Madonna mit Heiligenschein, eingefaßt von einem lichtblauen Tuch, die weiße Haut, die verzückten Augen, ein kleiner, blaßroter Mund, der sich auf einmal öffnete:
    ›Séraphine, meine Liebe! Hast du die Farben angerührt? Wir wollen heute mit dem Baum des Paradieses beginnen. Laß das Ripolin aus der Apotheke weg, und mal nicht mit den Fingern, du weißt, es ist giftig. Rühre auch nicht zu viel Kremserweiß hinein, die Farben müssen leuchten, und die Blätter des Baumes sollen meine Augen sein … Hörst du, Séraphine? Steh auf!‹
    Von Ferne vernahm ich wieder Cembalospiel.
    Ich muß gestürzt sein, denn plötzlich wurde es dunkel …«
    ICH SAH, WIE JEAN-LUC Erstarrte.
    Agathe und Guillaume, der Aufnahmeleiter, saßen unbeweglich, Fréderic und Laurent, der Kameramann, standen neben Philippe.
    Niemand rührte sich.
    Als hätte sie jemand in ihren Bewegungen angehalten, so wie man einen Film anhält.
    Plötzlich hatte ich das Gefühl, dieses stehende Bild regloser Menschen würde nie wieder ins Laufen kommen; wie eine Photographie im Sonnenlicht würde es langsam ausbleichen und verschwinden.
    Etwas mußte geschehen, also öffnete ich schwungvoll die Tür und trat erneut in den Raum.
    Ich umarmte Jean-Luc, den ich wirklich mochte und der mir in seiner Verwirrung leid tat, und erklärte den Anwesenden in schlechtem Französisch, unterlegt mit übertriebenem deutschen Akzent, ich hätte jetzt Lust zu arbeiten, außerdem meinen Text gut gelernt und sei bereit für einen neuen Tag voller Herausforderungen und kolossaler Triumphe.
    Da zog langsam wieder etwas Leben in die Gruppe, Agathe und Laurent lachten, und ich hatte das Gefühl, die dunklen Wolken würden sich vielleicht schon bald wieder verziehen.
    DIE DREHARBEITEN BEGANNEN
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