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Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Titel: Die Spieluhr: Roman (German Edition)
Autoren: Ulrich Tukur
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an diesem Tag mit fast dreistündiger Verspätung.
    Philippe wirkte angestrengt; er spürte, daß etwas passiert war, was einen störenden Einfluß auf den Fortgang unserer Arbeit nehmen könnte, und mißtrauisch beobachtete er Jean-Luc, um nach Anzeichen zu suchen, die seinen Verdacht bestätigten.
    Und wirklich, mit Jean-Luc stimmte etwas nicht: Sein Kopf glühte, er hatte glänzende Augen, war nervöser und hektischer als sonst, aber er verrichtete seine Arbeit tadellos.
    Philippes Argwohn legte sich allmählich, wenngleich er auch nicht völlig verschwand.
    Trotz alledem glückte uns an diesem Tag die schwierige Szene 45 viel besser, als ich zu hoffen gewagt hatte. In ihr wird Séraphine Zeugin eines überstürzten Aufbruchs in Senlis.
    Es ist der August 1914. Deutsche und französische Truppen haben an den Grenzen mobil gemacht und brennen darauf, eine Welt zu zerstören, die zwei Generationen Frieden und nie gekannten Wohlstand gebracht hatte.
    Wilhelm Uhde und seine Schwester Anne-Marie, die in aller Eile aus Berlin gekommen ist, packen zusammen, was das kleine Automobil, das vor dem Haustor steht, fassen kann: Kleider, Bücher und vor allem Bilder. Die meisten allerdings – darunter Gemälde von Picasso und Rousseau – müssen zurückbleiben (und werden wenig später konfisziert und verschleudert).
    Séraphine glaubt Opfer einer Intrige zu sein, die Wilhelm nun brutal von ihrer Seite reißt. Den perfiden politischen Zusammenhang, der ihm die Rolle eines deutschen Spions oder aber (aus deutscher Perspektive) die eines Fahnenflüchtigen zuweist, versteht sie nicht. Sie glaubt, die junge Frau, die ja immer wieder zu Besuch war, hätte lange schon ihr begehrliches Auge auf Wilhelm geworfen, ihn mit weiblicher List und Tücke umgarnt, um ihn nun als willige Beute im fernen Deutschland vor den Traualtar zu schleppen.
    Wie groß sind ihre Augen und wie sprachlos der Mund, als er ihr in einem kurzen Gespräch bedeutet, daß es sich bei Anne-Marie um seine Schwester handelt und er selbst gar nicht dazu gemacht sei, jemals eine Frau zu heiraten!
    Zwar ahnt sie die Lächerlichkeit ihrer Eifersucht, die Ungeheuerlichkeit seiner zweiten Aussage aber verstört sie, und ihre wahre Bedeutung bleibt ihr ein befremdliches Rätsel.
    Schon am nächsten Morgen fahren die Geschwister ab, und es wird dreizehn Jahre dauern, bis Wilhelm Séraphine wiedersieht.
    NACH DREHSCHLUSS WAREN Jean-Luc, der Aufnahmeleiter Guillaume und Frédéric, der Filmausstatter, in einem Produktionsfahrzeug aufgebrochen.
    Hinter Aumont hatten sie die Abkürzung genommen, die Jean-Luc am Tage zuvor nach Montrague geführt hatte.
    Sie wollten das Zimmer im Schloß photographieren, um die Photos Philippe dann zur Abnahme vorzulegen.
    Jean-Luc war sich absolut sicher, daß es die richtige Straße war, sie waren durch den kleinen Wald gekommen, er hatte ihn deutlich wiedererkannt, an seinem Saum stand die kleine, weißgetünchte Kapelle, dahinter die hohen Tannen, die sich allmählich in einem lichten Buchenwald verloren.
    Aber die Mauer war nicht mehr dagewesen, und infolge dessen auch nicht das Schloß dahinter.
    Guillaume hatte aus Ärger über die ganze Aktion irgendwann angefangen, Jean-Luc aufzuziehen, und ihn etwas hinterhältig gefragt, was und wieviel er denn geraucht oder durcheinander getrunken habe und ob er sich vielleicht einen Scherz erlaube und es lustig finde, »wie ein bekiffter Pfadfinder ziellos in der Gegend herumzufahren und Sprit zu verballern«.
    Jean-Luc war daraufhin wie eine Rakete in die Luft gegangen, aus dem Auto gesprungen und hatte die beiden angeschrien, sie sollten sich zum Teufel scheren, er suche jetzt alleine weiter und nichts und niemand könne ihn davon abhalten, sie wiederzufinden (sie hatten keine Ahnung gehabt, wen er damit meinte).
    Dann war er mit lächerlich hohen Bocksprüngen in den Wald hineingestürmt.
    Frédéric hatte ihm noch hinterhergerufen, er solle zurückkommen, das alles sei nur ein dummes Mißverständnis, doch Jean-Luc war immer weitergerannt; sie konnten ihn als hellen, hüpfenden Punkt noch eine Weile zwischen den dunklen Bäumen ausmachen, dann aber hatte ihn der Wald verschluckt.
    JEAN-LUC BLIEB verschwunden.
    Man telephonierte, suchte die Gegend um Aumont systematisch ab, informierte seine Eltern, ja sogar die Polizei, die ihn schließlich als vermißt ausschrieb, aber er schien vom Erdboden verschwunden wie jenes seltsame Schloß, von dem er so eindrücklich erzählt hatte und das nun in
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