Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die souveraene Leserin

Die souveraene Leserin

Titel: Die souveraene Leserin
Autoren: Alan Bennett
Vom Netzwerk:
der richtigen Annahme bleiben, dass ihm das ganz und gar nicht guttäte.
    Die Queen zählte. »Acht, neun – zehn« – die meisten davon, wie sie feststellte, Überbleibsel längst vergangener Kabinette. »Das ist deutlich, wenn auch kaum überraschend. Hätte ich dem Kabinett von Mr. Macmillan diese Frage gestellt, wären sicher ein Dutzend Hände gehoben worden, darunter auch die seine. Doch das ist kaum fair, denn damals hatte ich selbst Proust noch nicht gelesen.«
    »Ich habe Trollope gelesen«, sagte ein ehemaliger Außenminister.
    »Das hört man gern«, sagte die Queen, »aber Trollope ist nicht Proust.« Der Innenminister, der keinen von beiden gelesen hatte, nickte weise.
    »Prousts Buch ist sehr lang, dennoch könnten Sie es in den Sommerferien durchlesen und gelegentlich noch Wasserski fahren. Am Ende des Romans schaut der Erzähler Marcel auf ein Leben zurück, aus dem er im Grunde nicht viel gemacht hat, und entschließt sich, diesen Mangel dadurch auszugleichen, dass er den Roman schreibt, den wir soeben gelesen haben, und dabei einige der Geheimnisse der Erinnerung und des Gedächtnisses zu entschlüsseln. Man selbst hat, ohne sich erheben zu wollen, anders als Marcel einiges aus seinem Leben gemacht, dennoch habe ich wie er das Gefühl, einen Mangel durch Analyse und Reflexion ausgleichen zu müssen.«
    »Analyse?«, fragte der Premierminister.
    »Und Reflexion«, ergänzte die Queen.
    Dem Innenminister war ein Witz eingefallen, der im Unterhaus gut angekommen wäre, und so gedachte er ihn auch hier zu wagen. »Sollen wir daraus schließen, dass Eure Majestät auf die Idee eines solchen Rechenschaftsberichts gekommen sind, weil Sie in einem Buch darüber gelesen haben, und noch dazu in einem französischen? Ha, Ha.«
    Zwei oder drei Anwesende reagierten mit leisem Kichern, aber die Queen schien den Witz gar nicht zu bemerken (er war ja auch kaum als solcher zu bezeichnen). »Nein, Herr Innenminister. Aber Bücher legen einem, wie Sie sicher wissen, selten bestimmte Handlungen nahe. Bücher bestätigen einen im Allgemeinen nur in dem, was man – vielleicht unbewusst – bereits zu tun beschlossen hat. Man wendet sich an ein Buch, um seine Überzeugungen bestärkt zu finden. Ein Buch besiegelt sozusagen.«
    Einige der Räte, längst nicht mehr in Amt und Würden, gewannen den Eindruck, dies sei nicht die Frau, der sie einmal gedient hatten, und waren daher fasziniert. Doch der größte Teil der Versammelten schwieg eher unbehaglich, denn die wenigsten wussten, wovon sie redete. Und die Queen wusste das auch. »Sie sind verwirrt«, sagte sie ungerührt, »aber ich kann Ihnen versichern, dass Sie so etwas aus Ihrer eigenen Domäne kennen.«
    Wieder saßen sie auf der Schulbank, und sie spielte die Lehrerin. »Nach Argumenten für etwas zu suchen, worüber Sie längst entschieden haben, ist doch die unausgesprochene Grundlage eines jeden Untersuchungsausschusses, oder?«
    Der junge Minister lachte und wünschte sich sogleich, er hätte es gelassen. Der Premierminister lachte nicht. Wenn dies der Ton war, den die Queen in ihrem Buch anschlagen wollte, dann musste man das Schlimmste befürchten. »Ich finde immer noch, Sie würden besser damit fahren, nur Ihre Geschichte zu erzählen«, wandte er kleinlaut ein.
    »Nein«, sagte die Queen. »An leichter Erinnerungskost habe ich keinerlei Interesse. Ich hoffe doch, etwas Nachdenklicheres zustande zu bringen. Und mit nachdenklich meine ich keinesfalls besinnlich oder rücksichtsvoll. Kleiner Scherz.«
    Niemand lachte, und das Lächeln des Premierministers war zu einem maskenhaften Grinsen gefroren.
    »Wer weiß«, fuhr die Queen fröhlich fort, »vielleicht streife ich sogar das Literarische.«
    »Ich würde doch annehmen«, sagte der Premierminister, »dass Eure Majestät über der Literatur stehen.«
    »Über der Literatur?«, fragte die Queen. »Wer kann denn über der Literatur stehen? Da könnte man ebenso gut behaupten, über der Menschheit zu stehen. Aber wie ich schon sagte, ist mein Vorhaben nicht in erster Linie literarisch: Es geht um Analyse und Reflexion. Wie war das mit den zehn Premierministern?« Sie lächelte strahlend. »Da gibt es allerhand zu reflektieren. Man hat das Land so oft in den Krieg ziehen sehen, dass man sich lieber nicht an jedes Mal erinnern möchte. Auch darüber lässt sich nachdenken.«
    Sie lächelte immer noch, doch wenn es ihr jemand gleichtat, dann nur die ältesten Gäste, die nichts mehr zu befürchten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher