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Die souveraene Leserin

Die souveraene Leserin

Titel: Die souveraene Leserin
Autoren: Alan Bennett
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Sackgasse. Er schrieb jetzt seit zwanzig Jahren an seinen Memoiren und hatte noch keine fünfzig Seiten zu Papier gebracht.
    »Genau«, sagte er überzeugt. »Ma’am müssen schreiben. Aber wenn ich Eurer Majestät einen Rat geben darf? Fangen Sie nicht am Anfang an. Den Fehler habe ich nämlich begangen. Fangen Sie in der Mitte an. Chronologie wirkt nur abschreckend.«
    »Hatten Sie noch etwas auf dem Herzen, Sir Claude?«
    Die Queen schenkte ihm ihr breites Lächeln. Das Gespräch war zu Ende. Wie die Queen das genau mitteilte, war Sir Claude immer ein Rätsel geblieben, aber es war stets so deutlich, als hätte eine Glocke geläutet. Er rappelte sich hoch, als der Adjutant die Tür öffnete, neigte den Kopf, drehte sich dann an der Tür um, neigte den Kopf erneut und humpelte langsam den Korridor entlang, mit seinen beiden Gehstöcken, von denen einer ein Geschenk der Königinmutter war.
    Im Empfangszimmer öffnete die Queen das Fenster etwas weiter, um den Wind vom Garten hereinwehen zu lassen. Der Adjutant kehrte zurück, und mit hochgezogenen Augenbrauen deutete die Queen auf den Stuhl, den Sir Claude benutzt hatte, wo nun ein feuchter Fleck den Satin verdunkelte. Stumm trug der junge Mann den Stuhl hinaus, während die Queen ihr Buch und ihre Strickjacke nahm, um sich in den Garten zu begeben.
    Als der Diener mit einem anderen Stuhl zurückkehrte, war sie auf die Terrasse getreten. Er stellte den Stuhl ab und rückte mit der Routine langer Übung rasch alles im Raum zurecht, wobei er das Notizbuch der Queen auf dem Boden entdeckte. Er hob es auf, doch bevor er es auf den Schreibtisch zurücklegte, überlegte er einen Augenblick, ob er in Abwesenheit Ihrer Majestät wohl einen kurzen Blick hineinwerfen könnte. Nur dass just in diesem Moment Ihre Majestät wieder in der Terrassentür stand.
    »Vielen Dank, Gerald«, sagte sie und streckte die Hand aus.
    Er gab ihr das Notizbuch, und sie ging nach draußen.
    »Mist«, sagte Gerald. »Mist, Mist, Mist.«
    Der selbstkritische Ton war nicht unangebracht, denn innerhalb weniger Tage wartete er nicht mehr Ihrer Majestät auf, gehörte nicht einmal mehr zum königlichen Haushalt, sondern robbte mit seinem längst vergessenen Regiment im Regen über die Moore Northumberlands. Die Schnelligkeit und Rücksichtslosigkeit dieser fast an die Tudors gemahnenden Degradierung transportierte, wie Sir Kevin sich ausgedrückt hatte, die richtige Botschaft und setzte allen Gerüchten altersschwachen Verfalls ein Ende. Ihre Majestät war wieder ganz sie selbst.

    Nichts von dem, was Sir Claude vorgebracht hatte, war von Gewicht gewesen, dennoch musste sie noch an dem Abend in der Royal Albert Hall daran denken, als ein spezielles Promenadenkonzert zu ihren Ehren gegeben wurde. Musik war für sie bisher nie ein Trost gewesen, eher eine Verpflichtung, das übliche Repertoire von Konzerten, denen sie beiwohnen musste, war ihr vertraut. Heute Abend allerdings schien ihr die Musik bedeutsamer.
    Das war eine Stimme, dachte sie, als ein Junge ein Klarinettensolo spielte: Mozart – eine Stimme, die jeder hier im Saal erkannte, obwohl Mozart seit zweihundert Jahren tot war. Und sie erinnerte sich an Helen Schlegel in Wiedersehen in Howard’s End, die beim Konzert in der Queen’s Hall Bilder zu Beethovens Klängen malt, denn auch Beethoven hatte eine Stimme, die jedermann kannte.
    Der Junge kam zum Ende, das Publikum applaudierte, und auch sie beugte sich klatschend zu einem Mitglied ihrer Gesellschaft, als wollte sie ihre Anerkennung teilen. Doch eigentlich wollte sie sagen, so alt sie auch war, so berühmt sie auch war – niemand kannte ihre Stimme. Und im Wagen, der sie nach Hause brachte, sagte sie plötzlich: »Ich habe keine Stimme.«
    »Wundert mich gar nicht«, sagte der Herzog. »Viel zu heiß. Der Hals, was?«
    Es war eine stickige Nacht, und sie erwachte, ungewöhnlich für sie, in den frühen Morgenstunden und konnte nicht wieder einschlafen.
    Als der Polizist im Garten das Licht angehen sah, schaltete er vorsichtshalber sein Mobiltelefon an.
    Sie hatte ein Buch über die Brontë-Schwestern und ihre schwere Kindheit gelesen, doch sie glaubte kaum, darüber wieder einschlafen zu können, und stieß auf der Suche nach anderer Lektüre am Rand des Bücherregals auf den Roman von Ivy Compton-Burnett, den sie vor so langer Zeit im Bücherbus ausgeliehen und von Mr. Hutchings geschenkt bekommen hatte. Er war ihr damals sehr zäh erschienen und hatte sie beinahe einschlafen lassen,
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