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Die souveraene Leserin

Die souveraene Leserin

Titel: Die souveraene Leserin
Autoren: Alan Bennett
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gab noch mehr selbstzufriedenes Gelächter, da sich die Vornehmsten des Landes darin gefielen, von der Ersten im Lande geneckt zu werden.
    »Man kann, wie Sie alle wissen, auf eine lange Regierungszeit zurückblicken. In mehr als fünfzig Jahren habe ich zehn Premierminister, sechs Erzbischöfe von Canterbury, acht Sprecher des Unterhauses und, auch wenn diese Statistik Ihrer Ansicht nach vielleicht nicht hierher gehört, dreiundfünfzig Corgis erlebt, um nicht zu sagen überlebt.« (Gelächter.) »Ein Leben, wie Lady Bracknell sagt, voll der Vorkommnisse.«
    Das Publikum lächelte wohlgefällig, gelegentlich vergnügt glucksend. Das war ja ein bisschen wie in der Schule, jedenfalls in der Grundschule.
    »Und natürlich geht es immer weiter, keine Woche vergeht, in der nicht irgendetwas Interessantes geschieht, ein Skandal, eine Vertuschung, vielleicht sogar ein Krieg. Und weil man Geburtstag hat, darf jetzt niemand auch nur daran denken, verärgert dreinzuschauen« – (der Premierminister betrachtete die Decke, der Innenminister den Teppich) – »denn man hat eben einen weiten Blickwinkel, und es war immer schon so. Mit achtzig gibt es keine Ereignisse mehr, nur noch Wiederholungen.
    Doch wie viele von Ihnen wissen, hat Verschwendung mir schon immer missfallen. In einer nicht ganz frei erfundenen Darstellung meiner Person laufe ich abends durch den Buckingham-Palast und knipse das Licht aus, womit wohl angedeutet werden soll, man sei geizig, auch wenn man solches Verhalten heute eher mit Verantwortung für das Weltklima begründen könnte. Aber wenn man wie ich eben Verschwendung missbilligt, dann muss man einfach an die vielfältigen Erfahrungen denken, die ich machen durfte, viele davon ganz einzigartig, die Ernte eines Lebens, das mich oft, wenn auch nur als Zuschauerin, nah ans Geschehen gebracht hat. Die meisten dieser Erfahrungen«, und hier tippte sich Ihre Majestät an den makellos frisierten Kopf, »sind hier oben verwahrt. Und man möchte sie eben nicht gern nutzlos vergehen sehen. Die Frage ist also, was soll damit geschehen?«
    Der Premierminister öffnete den Mund, als wollte er antworten, und erhob sich sogar halb von seinem Sitz.
    »Das war«, sagte die Queen, »eine rhetorische Frage.«
    Er sank wieder auf den Stuhl.
    »Wie manche von Ihnen wissen, bin ich in den letzten Jahren begeisterte Leserin geworden. Bücher haben mein Leben in einer Weise bereichert, die nicht zu erwarten war. Aber auch Bücher bringen einen irgendwann nicht mehr weiter, und ich glaube, die Zeit ist nun gekommen, den Schritt vom Lesen zum Schreiben zu vollziehen oder es zumindest zu versuchen.«
    Wieder zuckte der Premierminister zusammen, und die Queen überließ ihm huldvoll das Wort, nicht ohne zu denken, dass es ihr wohl leider mit Premierministern immer so erging.
    »Ein Buch, Eure Majestät. Oh ja. Ja. Erinnerungen an Ihre Kindheit, Ma’am, an den Krieg, die Bombardierung des Palastes, Ihre Zeit bei der WAAF.«
    »Beim Transportkorps«, korrigierte die Queen.
    »Irgendwo in der Armee jedenfalls«, fuhr der Premierminister eilig fort. »Dann Ihre Ehe, die dramatischen Umstände, unter denen Sie erfuhren, dass Sie Königin geworden waren. Das wird sensationell. Und es steht kaum in Zweifel«, gluckste er, »dass es ein Bestseller werden dürfte.«
    »Der Bestseller überhaupt«, übertrumpfte ihn der Innenminister. »Weltweit.«
    »J-ja nun«, sagte die Queen, »nur dass ich«, und diesen Augenblick genoss sie sichtlich, »ganz bestimmt nicht an so ein Buch gedacht habe. So ein Buch kann schließlich jeder schreiben, und es haben auch schon einige getan – und die Ergebnisse sind meiner Ansicht nach äußerst ermüdend. Nein, ich hatte mir ein ganz anderes Buch vorgestellt.«
    Der Premierminister gab sich noch nicht geschlagen, sondern hob höflich interessiert die Brauen. Vielleicht wollte das alte Mädchen ja ein Reisebuch schreiben. Die verkauften sich auch immer ganz gut.
    Die Queen lehnte sich zurück. »Ich dachte an etwa Radikaleres. Etwas… Kühneres.«
    Wörter wie ›radikal‹ und ›kühn‹ tropften dem Premierminister so häufig von der Zunge, dass er immer noch nicht alarmiert war.
    »Hat jemand von Ihnen Proust gelesen?«, fragte die Queen in die Runde.
    Jemand Schwerhöriges murmelte »Wen?«, ein paar Hände gingen in die Höhe, darunter nicht die des Premierministers, und als ein junger Angehöriger des Kabinetts solches sah, der Proust gelesen hatte und gerade die Hand heben wollte, ließ er es in
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