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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition)
Autoren: Marion Poschmann
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mein Leben damit verbracht, in Kisten zu sitzen, lebendig begraben in schön ausgekleideten Kisten, den Blick auf Tapeten gerichtet. Ich habe Tapeten angestarrt, auch rohe Wände, aber meistens Tapeten, ich habe mich auf die Wandverkleidungen konzentriert, als könnte ich so besser erfassen, was sich zwischen diesen Wänden ereignete.
    Rauhfasertapete
    Klinisch weiß, nahm sie das Leben in der Klinik vorweg. Ich bewohnte ein 12-qm-Zimmer in einem Studentenwohnheim, das an einen Friedhof mit altem Baumbestand grenzte und immer im Schatten blieb. Mein Zimmer war im Erdgeschoß gelegen, und ich blickte, wenn ich von den Büchern aufsah, auf einen Rhododendronbusch, der das wenige Tageslicht, welches die Bäume noch durchließen, schluckte.
    Das Weiß der Tapete setzte dem wenig entgegen. Es war angegraut von den Ausdünstungen disziplinierter Medizinstudenten, viele von ihnen aus China oder dem Iran, die keine Zeit verschwendeten, die keine Freizeit kannten. Der Reiskocher in der Gemeinschaftsküche. Die Dusche auf dem Flur. Ich wusch mich am Waschbecken in meinem Zimmer. Vor diesem Waschbecken erlernte ich den Gebrauch des Waschlappens, den ich seit Kindheitstagen nicht mehr benutzt hatte, neu, ich lernte den Waschlappen zu schätzen, er machte mich unabhängig. Ich hatte es nicht nötig, im Bademantel über den Flur zu laufen, zufälligen Blicken ausgesetzt, ich kam nicht in die Verlegenheit, fremde Haare in den Abfluß brausen zu müssen. Ich fuhr am Wochenende zu unseren Eltern, um zu duschen,ich saß mit ihnen auf der Terrasse und aß Kirschkuchen, während die Waschmaschine im Keller meine Wäsche schleuderte, ich brachte ausgelesene Bücher mit und lagerte sie in meinem Jugendzimmer, ich nahm jede Woche ein Glas selbstgekochte Marmelade mit zurück.
    Die Rauhfasertapete war durchstochen. Sie trug unzählige Stecknadelspuren von Vorgängern, die sich ihre Klause mit Kalendern und Kunstdrucken geschmückt hatten. Ich hängte nichts auf, mich elektrisierte vielmehr die Kargheit, ich konzentrierte mich auf die Erhebungen der Tapete, schiefe Perlen, über die ich die Finger gedankenverloren gleiten ließ, Noppen, die Körperkontakt erforderten, die mich zu unwillkürlichen Kerbungen mit dem Fingernagel verleiteten, ich stellte Kerbtiere aus Perlen her, Käfer, die massenhaft auf den Wänden wimmelten, wahnhafte Käfer, mit denen ich mich professionell zu befassen begann.
    Ich als der Ältere habe die Nachkriegssparsamkeit unserer Eltern geerbt. Meine Schwester ist davon schon nicht mehr betroffen, sie hat zu Geld ein vernünftiges Verhältnis, sie gibt es aus, ohne dabei zu übertreiben. Ich hingegen drehe auch heute noch jede Münze dreimal um, obwohl dies in Anbetracht meines Gehalts nicht erforderlich ist und obwohl mir klar ist, daß dieser Automatismus vor allem bei geringfügigen Summen einsetzt, während ich größere Beträge wesentlich lässiger behandele, als verlöre ich dort den Überblick, als sei in solchen Dimensionen jede Realität überschritten und bräuchte nicht mehr berücksichtigt zu werden, als sei mir in Geldangelegenheiten ab einem gewissen Punkt plötzlich alles egal.
    Damals allerdings verfügte ich über wenig Geld und schränkte mich ein. Ich frühstückte in Wasser gekochte Haferflocken mit einer Prise Salz und einem Löffel Zucker. Ich nannte diese Speise großspurig Porridge. Abends bereitete ich mir in der Gemeinschaftsküche Spaghetti mit einer Sauce ausZwiebeln und Tomatenmark zu, Spaghetti al pomodoro e cipolla, ein klassisches Gericht, mit dem ich die reiskochenden Flurnachbarn allabendlich beeindruckte. Ich benutzte Teebeutel mehrmals hintereinander, bis sich die Flüssigkeit nicht mehr nennenswert färbte, ich verlängerte Mineralwasser mit Leitungswasser. Ich darbte nicht, im Gegenteil, ich nahm zu.
    Bereits im ersten Semester hatte sich mein Verhältnis zu meiner Finanzsituation in eine Art sportlichen Ehrgeiz verwandelt, der sich darauf belief, die Ressourcen optimal zu nutzen. Die Heizkosten waren in der Zimmermiete inbegriffen, daher war ich nie gezwungen, mit Schal und Handschuhen am Schreibtisch zu sitzen, wie ich es von Kommilitonen hörte, die sich andernorts eingemietet hatten. Ich sparte nicht an Büchern, ich sparte in unserer Stadt allerdings an öffentlichen Verkehrsmitteln und fuhr bei jedem Wetter mit dem Rad. In der Kölner Bucht regnete es oft.
    Diese Lebensweise behielt ich bei, als ich ein Begabtenstipendium der Studienstiftung erhielt. Ich führte mein
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