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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition)
Autoren: Marion Poschmann
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nicht wahr, sie sah angestrengt durch die Windschutzscheibe, die Lippen zusammengepreßt, wie ich es sonst nur von Tante Sidonia kannte. Es war derselbe ein wenig verbitterte Zug, bei Mila nur angedeutet, den unsere Tante gewöhnlich um den Mund trug und der sich bei dieser längst von einer Gewohnheit zu einem körperlichen Merkmal verfestigt, sich unauslöschlich in ihre Miene eingegraben hatte.
    An der Scheibe klebte die Märzlandschaft, klebte dort penetrant und deprimierend mit ihren grau zerdrückten Wiesen und überschwemmten Äckern und ihrer lichten Monotonie; ich hätte jetzt gerne die zäh an uns haftende Landschaft von meinen Fenstern entfernt. Die matschigen, gleichwohl funkelnden Felder, die keimende Saat, die riesigen Pfützen, in denen zerfetzte Wolken schwammen, mit dem Eiskratzer abgeschabt, oder einfach an der richtigen Ecke gezogen, von der aus sich alles ablösen würde.
    Kopfschmerzen, Übelkeit, Engegefühl: Ich riß an der Landschaftstapete. Sie war spröde, holzig, sie riß darunterliegende Schichten mit. Die Beerdigung hatte mich zermürbt. Etwas in meinem Inneren begann Tapeten abzureißen, als sei ich ein leerer Raum, mit den modischen Mustern vergangener Jahre beklebt. Ich riß wütend die Schichten ab, als bildete ich mir ein, neu anfangen zu können.
    Meine Schwester sah mich nicht an, sie betrachtete meinen Handrücken, die blasse Haut mit den Sommersprossen und den roten Härchen, sie sah auf meine Hände, die das Lenkrad würgten.
    Ob ich mich an ihren Tigertraum erinnere.
    Ich erinnerte mich. Wir bewohnten noch ein gemeinsames Zimmer. Mila war von einem Alptraum aufgeschreckt und zu mir ins Bett gekrochen, ihr hatte wieder von einem gewaltigen Tiger geträumt, der ihre Puppe verfolgte, und zwar die schwarzgelockte, dunkelhäutige Puppe, die keinem Familienmitglied ähnelte. Die Puppe gewann unwahrscheinlicherweise einen Vorsprung, obwohl der Tiger ungleich größer und schneller war, dann aber schleuderte der Tiger nach der Art eines Frosches seine meterlange klebrige Gummizunge und bekam die Puppe wohl zu fassen, aber das vermutete ich nur, denn Mila behauptete, in diesem Moment aufgewacht zu sein und den Ausgang des Traumes verpaßt zu haben.
    Die schwarze Puppe hatte keine Chance. Der Tiger reichte weiter, als man selbst einem Tiger zuzugestehen bereit war, die phallische Komponente der Macht nahm ich als Kind mit Gelassenheit zur Kenntnis, die träumerische Übertreibung erstaunte mich, die Tigerzunge selbst leuchtete mir unmittelbar ein. Ein bedeutender Tigerstreifen, der sich abgelöst und verselbständigt hat, verdickt und beweglich, chamäleonklebrig, erobernd, ausgreifend.
    Diesen Tiger empfand ich durchaus als bedrohlich, aber das eigentlich Gruselige war die Tatsache, daß die Identität der Puppe wechselte. Mila erzählte, daß sie selbst als diese Puppe vor dem Tiger flüchtete, daß sie aber auch von außen die Puppe laufen sah, die dann jemand anderes sein sollte, meistens unsere Mutter, manchmal auch unser Vater oder sogar ich. Mir war daran unheimlich, daß das Ich meiner Schwester einmal in dieser Puppe steckte, dann wieder hilflos von außen zusehen mußte, und daß es problemlos mit meinem vertauscht werden konnte.
    Seit unserer Kindheit war von diesem Traum nicht mehr die Rede gewesen, aber ich erinnerte mich ausgezeichnet.
    Daß ich mich sehr gut erinnere, behauptete ich also in jenem auffordernd-verständnisvollen Ton, den ich mir im Laufe meiner Berufstätigkeit zur Gewohnheit gemacht habe und der früher einmal nur für Mila zur Verfügung stand.
    Mila nickte nur und starrte vor sich hin. Pyramidenschweigsamkeit.
    Eigentlich hätte ich erwartet und auch durchaus angemessen gefunden, daß sie sich in irgendeiner Form erklärte. Ich wartete noch eine Weile, als Psychiater muß man warten können, die Kunst besteht darin, ohne Druck und ohne Vorwurf zu warten, bis der Patient bereit ist, sich zu äußern, aber Mila war nicht mein Patient, und deshalb erläuterte ich ihr, daß ich diesen Traum auf übermäßigen Fernsehkonsum zurückführte.
    Auf die gewaltverherrlichenden Zeichentrickfilme, in denen sich vermenschlichte Tiere jagten und auf brutale Weise zu Tode kamen, graue Kater in Scheiben geschnitten, lustige Mäuse auf jede erdenkliche Weise malträtiert und verstümmelt, Panther, gegen die Wand geschleudert und plattgedrückt. Auf die Raubtiere, sagte ich, die sich ständig verformten, diein die Häckselmaschine, in den Fleischwolf, die unter die Räder
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