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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition)
Autoren: Marion Poschmann
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gerieten, von der Dampfwalze zu einer Fläche gewalzt. Aber dann kam die Wiederauferstehung, die unsterbliche Figur nahm ihre alte Form wieder an, fand aus der Flächigkeit zum Volumen zurück im Handumdrehen, nach dem Vorbild der Schwimmtiere, die man nur aufblasen muß, und die Jagd konnte erneut beginnen.
    Den Tigertraum meine ich von Mila so oft erzählt bekommen zu haben, daß ich mich an ihn erinnere, als wäre es mein eigener Traum gewesen. Beinahe ärgerte es mich, daß sie nun Anspruch darauf erhob.
    Es sei ein Tagesrest, sagte ich also, geblieben von den Gummipuppen des Kinderfernsehens und vielleicht den Werbespots der Autoindustrie, wo eine Raubkatze über die Steppe raste und nicht nur die Geschwindigkeit der Maschine, sondern auch Freiheitswahn und dunkle Eleganz verkörpern sollte, also das Geheimnis, das auch der schwarzen Puppe innewohnte.
    Mila nickte wieder, es war klar, daß sie jetzt gar nichts mehr sagen würde, daß sie imstande war, wesentlich länger in einer Schweigesituation zu verharren als ich, und daß ich den Zorn, den das Begräbnis in mir hatte hochkochen lassen, an ihr auslassen wollte.
    Ich zuckte mit den Schultern, fand einen ekelhaften Popsender und drehte das Radio auf volle Lautstärke, gewann wieder die linke Spur und legte jaguarhaft an Tempo zu. Mila ließ den Gurt los und lehnte den Kopf an die Scheibe, starrte nach vorn, etwas Willenloses meinte ich von der Seite in ihrem Blick zu finden und gleichzeitig etwas Unerbittliches, wie eine Beerdigung es einem auferlegt, wenn man nur die Wahl hat, sich entweder mit dem Tod oder mit dem Toten zu identifizieren.
    Seiden-Präge-Tapete
    Mila bekam zur Einschulung eine Katze und ein eigenes Zimmer. Sie übernahm Verantwortung, und der Tigertraum wurde von Katzenträumen verdrängt. Die Katze, weiß und rosapfotig wie ein Albinokaninchen, aber mit vergißmeinnichtblauen, kornblumenblauen, zichorienblauen Augen, wurde zu meinem bevorzugten Beobachtungsobjekt. Ich schlich ihr nach, wenn sie durch das Haus schlich, ich zählte die Mäuse, die sie fing, ich kontrollierte, ob und wie oft sie ihr Katzenklo benutzte und auf welchen Kissen sie sich niederließ. Die Katze besaß ein Katzenkissen auf der Kiefernholztruhe im Flur, das sie mied, sie besaß ein Frotteetuch auf Milas Fensterbank, das sie stark nutzte, sie schlief nachts zu Milas Füßen, was sie nicht durfte. Weil die Katze so weiß war, konnte sie sich unerkannt in den Federbetten des Elternschlafzimmers verbergen, im Sommer preßte sie sich auf die kühlen weißen Fliesen des Badezimmerbodens, sie wälzte sich auf meinem Teppich und stieß weißes Katzenhaar ab. Ich hatte den Eindruck, daß ich auf die Katze mit einer leichten Allergie reagierte. Manchmal mußte ich anhaltend niesen, manchmal fühlte sich meine Zunge pelzig an.
    Zeitlose Streifentapete fürs Jugendzimmer
    Kompensatorisch hängte ich in meinem Zimmer Apothekenposter mit großen Raubkatzen auf. Infame Apothekenposter, die die Kinder werbend an das Thema Krankheit heranführen sollten, ihnen das Thema Krankheit eigenartigerweise dadurch schmackhaft zu machen versuchten, daß auf ihnen jeweils eine Verkörperung von absoluter Gesundheit abgebildet war. Ich heftete einen brüllenden Löwen über mein Bett und einen schwarzen Panther an die Zimmertür. Abends im Bett sah ich die Schönheit der Linie, der wehrhaften Bewegung vor mir, ich stellte mir vor, ein solcher Panther zu sein, der in kraftvoller Eleganz über die Steppe jagt, dann wurde ich, kurz bevor icheinschlief, ein Königstiger, ein Sibirischer Tiger, ein Säbelzahntiger, der sich aus den Streifen der Tapete löste und meine Träume durchschritt.
    Als Mila mit Pferdebildern konterte, tauschte ich das Pantherposter gegen einen Jaguar und den Löwen gegen einen Ferrari. Auch dies gab die Apotheke her. Ich frage mich manchmal, wie ich als Einzelkind durch die Pubertät gekommen wäre. So arbeitete ich mich an meiner Schwester ab, ich reagierte auf ihre Aktivitäten mit Gegenaktivitäten, genaugenommen mit kurzen Krankheiten, die mich in die Apotheke führten und die ich dann als Gegenaktivitäten auszugeben in der Lage war.
    Linkrusta-Imitation
    Im Werkraum in unserem Keller waren drei Wände kahl, auf der vierten prangte ein Stück Tapete mit goldenen Rankenornamenten, das Tante Sidonia aus der Wohnung ihres Dienstherrn mitgebracht hatte. Als die Pfarrerswohnung aufgelöst wurde, rettete sie diesen Tapetenrest und drängte ihn unseren Eltern auf. Unseren Eltern
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