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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition)
Autoren: Marion Poschmann
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abzuschirmen. Den Weg zur Kapelle säumte eine Rotdornallee. Die Knospen schwollen, in der Luft hingen bereits Blütendüfte, auch wenn man keine Blüten sah, auf dem Kiesweg zeichneten sich die scharfen Schatten kahler Äste ab, harkten wippend, wenn ein Windstoß kam.
    Von den Gräbern war die Winterdekoration bereits entfernt worden, in den Behältern für Pflanzenabfälle häuften sich Fichtenzweige und lädierte Gestecke mit hartem weißen Islandmoos, aus denen rote Schleifen hervorblinkten. Auf den frisch geharkten Gevierten stachen Primeln ins Auge, fast schmerzte es, diese Frühblüher zu sehen in ihren Plakatfarben, feuerrot, dottergelb, passionsviolett, die unbeweglich blanken Tulpen in flaschengrünen Steckvasen, die künstlich anmutenden Narzissenbündel, in denen an Holzstäbchen bunte Plastikeier steckten.
    Im älteren Teil des Friedhofs war aus den Grabfeldern ein Wald gewachsen. Verwitterte Steintafeln hingen schief im Boden und drohten umzustürzen, wurden von abgebrochenen, bemoosten Ästen in ihrer Schieflage gehalten, an rostigen Gittern bröckelten die stilisierten Lilien, die eisernen Mohnkapseln, die Ranken und Rosenblüten unter dem feinen Flechtenschimmer, der aufgeklebt aussah, wie der Rasenstaub einer Modelleisenbahn. Auf dem Waldboden der Hauch von ungezählten Sibirischen Blausternen, ein himmlisches Blau, das einlud, dort zu lagern, sich mit einer Picknickdecke hinzubetten, das mich, bevor ich die Kapelle betrat, für einen Moment erfreute.
    Die klamme Kühle saugte mich ein, der Geruch brennender Kerzen, die schwüle Süße der Lilienblüten. Vor dem Sarg bordeten die Blumenkränze über, in vornehmem Weiß gehalten, als habe man sich abgesprochen. In den Bänken saßen einzelne Trauergäste, die noch ein Gebinde auf dem Schoß hielten, es in raschelndem Blumenpapier verborgen hielten, auf den passenden Zeitpunkt der Übergabe wartend, sich mit beiden Händen am leichten Knitterpapier, seiner Luftigkeit festhaltend.
    Ich stellte mich hinter der letzten Bank auf, die Hände gefaltet, ohne Blumenstrauß. Ich war kein naher Verwandter des Verstorbenen. Meine Trauer hielt sich in vernünftigen Grenzen, ich hatte Odilo in den letzten Jahren seltener gesehen, inmeinem Alltag spielte er keine Rolle, und sein Hinscheiden würde in meinem Leben kaum eine Veränderung bringen. Dennoch ist das Faktum des Todes ein gemahnendes: an die eigenen Versäumnisse, mögliche Lieblosigkeiten, die ganz persönliche Hinfälligkeit.
    Natürlich wäre es nötig gewesen, mich mehr um ihn zu kümmern. – Ein Satz, den ich innerlich testete, den mir meine Erziehung wie automatisch eingegeben hatte, den ich auf alle ähnlichen Fälle hätte anwenden können, auf Odilo nicht. Man kümmerte sich nicht um ihn. Man widmete ihm Aufmerksamkeit, eine ganze Menge sogar, aber er wußte es stets so einzurichten, daß der andere von ihm abzuhängen schien, seiner Gegenwart bedürftiger schien als umgekehrt. Er hat mir immer das Gefühl gegeben, daß seine Anwesenheit in meinem Leben eine Gnade war, und ich glaube, zu meiner Beerdigung wäre er nicht gekommen.
    Als die Musik einsetzte, senkte ich den Kopf. Durch Musik bin ich leicht zu erschüttern. Gegen Musik errichte ich keinen inneren Schutzwall, noch die trivialste Untermalung eines Werbespots erreicht mich, jeden Country-Song summe ich mit, mein fülliger Leib zuckt allen Beats nach, selbst wenn ich mich in der Öffentlichkeit bemühe, nicht rhythmisch mit dem Kinn zu nicken. Frau Leonberger hatte ein Streichquartett engagiert, es spielte einen getragenen Satz von Schostakowitsch, eine demonstrative, düstere, leidende Musik, die in der Kapelle erst zu leise, dann zu laut war, laut gegen die Wände schwappte, an denen auf weißen Fackelattrappen elektrische Kerzen brannten, ewige Elektroflammen, die nicht einmal flackerten, wie man es von italienischen Inszenierungen kennt, von jeder Krippenbeleuchtung, nein, diese Flammen standen starr, wie Frau Leonberger starr stand, die in der ersten Reihe ihren Platz gefunden hatte, wie alles starr stand, da man jetzt die Türen schloß.
    Ein Redner trat an den Ambo, ich hörte ihm nicht zu.
    Schwarzlackierte Autos, schwarzlackierte Schuhe, schwarzlackierter Sarg. Frau Leonberger hatte auch mich gebeten, eine Rede zu halten. Rückblick, nannte sie das, Lebensrückblick, ich als sein guter Freund, zudem Psychiater, wisse doch sicher manches, was der Familie entgehe, eine tiefgründige Analyse und Würdigung erhoffte sie sich, und
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