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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition)
Autoren: Marion Poschmann
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Stück Würfelzucker hinzuhalten.
    Er trat weiter vorne zurück auf den Weg. Die Schlammränder an seinen Schuhen zogen sich seitlich bis zur Schnürung hoch.
    Aus Gründen der Beschwichtigung, der Ablenkung sowie parkführerhafter Gewohnheit steuerte ich nun den alten Maulbeerbaum an. Der Maulbeerbaum konnte als Sehenswürdigkeit gelten. Er stammte aus der Zeit Friedrichs des Großen,er hatte schon damals keinerlei Nutzwert, da es sich bei diesem Exemplar nicht um einen weißen, für die Seidenraupenzucht geeigneten Maulbeerbaum handelte, sondern um einen schwarzen, er war ein reines Ziergehölz, und er war noch gut in Schuß. Allerdings ließ er zu dieser Jahreszeit das Blattwerk vermissen, was seinem imposanten Erscheinungsbild ein wenig Abbruch tat. Dies war mir zu spät eingefallen; Odilo ging bereits voran, als ob er derjenige sei, der sich im Gelände auskennte. Wir schritten im Gänsemarsch entlang der Traktorfurche. Ich konzentrierte mich darauf, über ein paar morsche Äste zu steigen und gleichzeitig nicht ins Wasser zu treten. Als ich wieder aufblickte, sah ich Odilo von hinten. Er bog an der falschen Stelle ab. Dort führte kein Pfad ins Gebüsch. Dort gab es nur Dickicht. Nur Büsche, die sich wieder ausgebreitet hatten, unbeschnittene Eibenbüsche, wie sie auch vor Kellerfenstern stehen, um dort etwas Fehlendes zu markieren, Kulisse ihrer selbst, buschiger Budenzauber, Gaukelei, unendlich langsames schwarzgrünes Feuerwerk.
    Als ich die Stelle erreichte, war er schon weg.
    Ich trat nicht ins Gebüsch, sondern folgte dem offiziellen Weg bis zum Maulbeerbaum. Der Baum wiegte seine kahlen Äste; niemand hielt sich in der Nähe auf. Unter den Zierbaum hatte man als weiteren Zierat einige eiszeitliche Steine gewälzt, um den Eindruck von Natürlichkeit zu verstärken. Auf diesen Steinen hatten sich noch vereinzelt violette Flecken der überreifen Beeren gehalten. Odilo war nicht hier.
    Ich lief dorthin zurück, wo er abgebogen war, und drückte mich zwischen den dichten Eiben durch.
    Ich stapfte allein durch wütendes Gebüsch.
    Daß man sich in diesem nicht allzu weitläufigen Park nicht mehr wiederfand, war natürlich vollkommen absurd. Ich lief zurück zum Torhaus. Sein Wagen stand nicht mehr da.
    Es war nicht das erste Mal, daß er ohne ein Wort aus derZweisamkeit ausscherte. Ich tolerierte das, wenn auch zähneknirschend, als Kontaktproblem. Es war nicht das erste Mal, daß er sich heimlich davonmachte, um dann am nächsten Tag noch einmal anzurufen: Man habe sich im Park plötzlich verloren, es sei ohnehin schon spät gewesen, und ich hätte ja gewußt, daß er um diese Zeit wieder habe zurückfahren müssen.
    Dennoch nahm ich ihm übel, daß er sich nicht verabschiedet hatte.
    Es war das letzte Mal, daß ich ihn sah. Er stand auf dem matschigen Weg, dicht an der ausgearteten Hecke. Er bog ab, wo man eigentlich nicht abbiegen konnte, er wandte sich zur Seite, und das Letzte, Allerletzte was ich von ihm wahrnahm, war seine schmächtige Gestalt im niedersinkenden Licht. Odilo als Sol invictus: sein Haupt vor der glühenden Scheibe, im Strahlenkranz. Odilo mit flammendem Haar wie auf alten römischen Münzen: der Kaiser im Doppelprofil mit dem Sonnengott.

30 Epilog: Aurora borealis
    Die Sonnenstrahlen verhüllen das Weltall. Helle Schleier lassen die Sterne verschwinden, der Mond wird verdeckt, die Tiefe mit Schein gefüllt. Vor der Finsternis hängt ein Vorhang aus Licht.
    Das Unendliche schnurrt zusammen auf flüchtige Punkte, die wieder ihre Position einnehmen, erkennbare Körper auf ihren Flugbahnen, Fluchtwegen, Körper, von Eingebungen, Träumen, Ahnungen getrieben, überempfindlich gegen Eindrücke, subjektiv gefärbt, ein dünner Flor aus Erscheinungen, am künstlichen Tag wieder auferstanden, es ist die Verwandlung von Abwesenheit in Glanz.
    In der Nacht habe ich Polarlicht gesehen. Ich erwachte gegen drei, schlurfte eine Runde durch die Gänge, erblickte vom Nordfenster aus einen rötlichen Schein am Himmel. Kein gleichmäßiger, langsam anwachsender Schimmer. Kein Sonnenaufgang, nicht schon um diese Zeit. Sondern ein abgerissenes Rot in Fetzen und Schlieren, beinah unnatürlich, wie der Widerschein einer Industrieanlage am bedeckten Himmel. Doch in dieser Gegend befinden sich keine Industrieanlagen. Pulsierende Bänder kriechen rot durch die Dunkelheit, ziehen sich zusammen zu rottriefenden Spiralen. Diffuse Vorhänge heben und senken sich, werden ein Stück auf- und wieder ein Stück
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