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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition)
Autoren: Marion Poschmann
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zugezogen, ein sehr ferner Scheinwerfer strahlt sie an.
    Wir haben hier für Polarlichtsichtungen relativ gute Bedingungen. Kaum Lichtverschmutzung, keine größeren Ansiedlungen in der Nähe, keine nennenswerte Straßenbeleuchtung.Warum sollte ich nicht auch einmal Polarlicht sehen? Andere sehen weit spektakulärere Himmelserscheinungen, andere sehen Sonnenfinsternisse, andere sehen Kometen. Auch ich hätte lieber einen Kometen gesehen, den Halleyschen Kometen zum Beispiel, von dem es heißt, je bedeutender der Mann, desto öfter sieht er den Halleyschen Kometen. Mancher sah ihn einmal, Mark Twain und Ernst Jünger sogar zweimal. Ich habe ihn bei seiner letzten Erdannäherung verpaßt und werde wohl, das kann ich leicht ausrechnen, in meiner Lebenszeit keine zweite Chance bekommen.
    Kann ich daher nicht froh und dankbar sein, wenigstens Polarlicht zu sehen? Ein unberechenbares Fluoreszenzphänomen, ausgesandt von unsichtbarem Ort, ein Licht, das richtungslos, ziellos durchs All strebt, wie wir?
    Ich stehe am Fenster, ich stütze mich auf das Fensterbrett, um das Gesicht ans Glas zu pressen, meine vor Aufregung schwitzigen Hände kleben an der Lackierung fest. Mein Atem trübt die Scheibe, und ich rutsche ein Stück weiter, um die rötlichen Schlingen und Wirbel weiterhin ins Auge zu fassen, ich zwinge mich, sie mir genauestens einzuprägen. Als ich mich schließlich abwende, haften weiße Lacksplitter an meinen Handballen. Ich kratze und schnipse sie ab, hinterlasse harte Flöckchen auf den Bodendielen.
    Am Morgen bin ich mir nicht mehr sicher, ob nicht das Ganze nur ein Traum war. Habe ich Polarlicht gesehen? Hat es mich ergriffen? Als ich mich wasche, finde ich ein Stückchen weißen Lack unter dem Daumennagel.
    Vormittags werde ich zur Ergotherapie gerufen, weil ein Patient einen Tobsuchtsanfall erleidet. Herr P. hat sich gestern vom Mittagessen ein Fischstäbchen mit auf sein Zimmer genommen und es im Waschbecken schwimmen lassen. DiePanade hat sich über Nacht abgelöst, und nun hat er es mit zur Ergotherapie gebracht, um ihm ein neues Schuppenkleid zu verpassen. Aber die Papierschnipsel, die er aufklebt, haften nicht. Als ich komme, packt er gerade einen Stuhl am Bein, haut ihn auf den Tisch, zerstört die Arbeiten von Frau Y. und Herrn Q., sein Fischstäbchen kommt glimpflich davon und zerbricht nur in zwei Stücke. Frau Y. sägt mit der Handkante verzweifelt an ihrem Oberschenkel, Herr Q. ist erstarrt. Ich entwinde Herrn P. den Stuhl, bette die unbekleideten Fischfragmente auf ein weißes Blatt Papier, nehme Herrn P. an die Hand. Sie ist weich wie der Bauch eines Tieres. Wir gehen in die Küche, reparieren das Fischstäbchen mit einem Zahnstocher, hüllen es in Paniermehl, tragen es zum Schwanenteich. Herr P. nimmt es vorsichtig vom Papiertablett auf, hockt sich nieder und setzt es ins Wasser. Es geht sofort unter. Nur das Paniermehl treibt auf der Oberfläche, bildet kleine Inseln wie Blütenstaub. Herr P. beruhigt sich. Auf dem Rückweg zum Schloß verwickelt er mich in ein Gespräch über die vernünftigen und unvernünftigen Änderungen im Steuerrecht, die die Regierung plant. Er ist Steuerberater aus Charlottenburg, noch immer betreut er einige Klienten. Jeden Mittwoch fährt er in sein Büro nach Berlin.
    Mittags sehe ich die Patienten apathisch durch die Gänge ziehen, vollgepumpt mit Haloperidol, in kraftloser Zeitenthobenheit. Ich sehe sie mit Mühe einen Fuß vor den anderen setzen, nah an der Wand entlang, um sich gegebenenfalls abzustützen, so daß sich in Brusthöhe ein dunkles Band von den Berührungen der Hände abzeichnet, die Bahn, auf der sie lange und langsam kreisen. Sie gehen tagsüber die Runde, die ich bei Nacht mache, sie gehen lastend, resigniert um den leeren Mittelpunkt der Anlage, halten sich an der Wand fest. Frau Dr. Z. plant, diese Wand bis in eine Höhe von zwei Metern mitLatexfarbe zu streichen, so daß man die Spuren menschlicher Finger abwaschen kann.
    Nachmittags stehen im Kavaliershaus die Türen offen, es ist Besuchszeit.
    Herr M. sitzt auf seinem Bett, blickt auf seine Schuhe, reagiert nicht auf Ansprache. Seine Gattin hat den einzigen Stuhl eingenommen, sie balanciert schmal auf der äußersten Kante, preßt die Knie aneinander, ringt verlegen die Hände, berichtet leise und monoton von Ereignissen in der Familie, der Verwandtschaft, der Nachbarschaft.
    Herr W. lehnt kerzengerade als Schwellenhüter am Türrahmen, schaukelt den Oberkörper manchmal vor, bis er eine
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