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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers
Autoren: Werner Schneyder
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begriff, der Altmeister hatte einen Lebensinhalt: das permanente Herausstellen der Fähigkeiten seines Lebenspartners, des Direktors.
    So tief sitzt das, dachte der Regisseur, eigentlich am Rande des Irrsinns, das wird ein schwerer Job. Im Grunde ist es nur zu machen, wenn ich beim Gespräch mit dem Direktor einen derartig guten Eindruck mache, dass der dem Altmeister sagt, er könne sich mir getrost ausliefern, ich würde es in seinem Sinne machen. Und dann wird’s immer noch reichlich schwer werden.
    Der Regisseur bekam Angst. Er reflektierte sozusagen die Panik, die vom Altmeister ausging: die Panik, das künstlerische Vorhaben könnte auf eine Art und Weise gelingen, die den Direktor als ersetzbar erscheinen ließe.
    Das Büro des Direktors, hinter dem der vornehmen Dame liegend, erinnerte überhaupt nicht mehr an Theater, nur mehr an Sammlerleidenschaft von Kunstnarren.
    Der Direktor saß da, die Ruine eines vordem sicherlich stattlichen, massigen Mannes, bleich, mit eingefallenen Wangen, ein Wrack.
    Wie hat sich der noch ins Büro transportiert?, fragte sich der Regisseur.
    »Seien Sie willkommen«, begrüßte ihn der Direktor. »Ist das Hotel in Ordnung? Ich nehme an, ihr beginnt dann gleich mit der Arbeit.«
    Das Sprechen strengte ihn an.
    Der Altmeister merkte es und sagte: »Es geht
ihm
heute viel besser als gestern.
Er
ist auf dem besten Wege.«
    »Das ist ja sehr erfreulich«, sagte der Regisseur.
    Der Direktor nahm wahr, dass der Regisseur seinen Blick nicht vom Dekor lassen konnte.
    »Macht er Sie nervös, dieser Antiquitätenladen?«
    »Was sagt er denn da?«, rügte – gespielt belustigt – der Altmeister.
    Der Direktor beachtete den Einwurf nicht und fragte den Regisseur scharf: »Finden Sie das Buch gut?«
    »Ausgezeichnet.«
    Der Direktor zuckte die Achseln, als wollte er sagen: lauter Verrückte.
    »Sie sollten mir noch erzählen, wie Sie sich die Sache vorgestellt haben. Ich hoffe, ich kann Ihren Ideen genügen«, sagte der Regisseur.
    »Unsinn«, sagte der Direktor, »da hat Ihnen
Puppo«
– er nannte den Altmeister grundsätzlich Puppo – »Unsinn erzählt. Nein, das ist Ihre Arbeit, machen Sie das nur, wie Sie meinen. Puppo soll nicht immer Unsinn reden.«
    Das klang streng.
    Die Strenge verfehlte ihre Wirkung nicht. Der Altmeister begann sich zu verteidigen.
    »Aber
er
hat doch so großartige Einfälle gehabt – «
    »Bitte geh mir nicht auf die Nerven, Puppo!«
    Der Direktor schien zu müde, zu krank, um zu tun, was der Altmeister von ihm erwartete, nämlich den von diesem vorgegebenen Text zu wiederholen. Der Altmeister musste selbst einspringen. Er begann im Raum auf und ab zu gehen und auszuführen, wie er sich alles vorgestellt hätte, mit dem Aufbau, dem Licht, den Verwandlungen, dem Stil der ganzen Unternehmung.
    Der Regisseur hörte zu. Im Grunde war alles, was da skizziert wurde, das, was von den beiden als Arbeitsergebnis seit Jahrzehnten bekannt war, als deren Stil, als die Marke der Firma.
    Langsam wuchs im Regisseur der Verdacht, die Sache könnte ganz anders aussehen, als er und die Öffentlichkeit annahmen. Es könnte so sein, dass es der Altmeister war, von dem alle künstlerischen Impulse ausgingen, dass der sie seinem Direktor, eben
ihm
, soufflierte, vielleicht ein Leben lang souffliert hatte, bis
er
in der Lage war, alles als sein eigenes Genie darzustellen, wodurch Puppo – ist das nicht ein blöder Name?, dachte sich der Regisseur – in die Lage versetzt wurde, den zu spielen, der geführt wird, der empfängt.
    Es könnte sein, dachte der Regisseur, dass – und das wäre nicht unkomisch – der Direktor eine Erfindung des Altmeisters ist, eine Erfindung der Liebe. Die Proben würden das klarstellen.
    Der Regisseur und der Altmeister standen einander auf der kleinen Bühne gegenüber, der Regisseur hatte das Buch in der Hand, der Altmeister benötigte keines mehr, er war schon studiert, am Bühnenrand saß gleichmütig hinter dem Flügel ein junger Pianist, ein Ephebe, auf seine Einsätze wartend.
    Das Spiel begann.
    Jeder Vorschlag des Regisseurs, jede Anweisung, jede Kritik am Angebot des Altmeisters wurde von diesem so kommentiert: Ja, das hätte
er
sicher auch so gemacht, das sagt
er
auch immer, das will
er
mir schon seit Jahren abgewöhnen, das hat
er
zum ersten Mal, warten Sie!, na ja, vor ungefähr zehn Jahren so gemacht …
    Ich darf das nicht hören, dachte sich der Regisseur, das wird bis zur Premiere so gehen, das wird nur durchzustehen sein, wenn ich
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