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Die sizilianische Oper

Die sizilianische Oper

Titel: Die sizilianische Oper
Autoren: Andrea Camilleri
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ein einziges Mal seiner gewaltigen Unfehlbarkeit nicht entsprechen können (und diese Annahme brachte ihm, dem Sohn, den Kopf erst recht zum Glühen). Er lenkte seine Schritte hin zum väterlichen Gemach und war froh, daß seine Mutter nicht da war, sondern in Tübingen der Großmutter Wilhelmine zur Seite stand. Auf der Schwelle schon schlug ihm das ohrenbetäubende Schnarchen des Ingenieurs entgegen, eines einhundertzwanzig Kilogramm schweren und knapp zwei Meter großen Kolosses mit roten Stoppelhaaren und einem riesigen, ebenfalls roten Schnauzer. Er tippte den lärmenden Fleischberg an und zog schleunigst die Hand wieder zurück, als hätte er sich verbrannt.
      »He?« machte der Vater, die Augen weit aufgerissen ob seines leichten Schlafs.
    »Vater«, murmelte Gerd.
      »Was ist denn? Was gibt's?« fragte der Ingenieur und zündete ein Streichholz für die Lampe auf der Kommode an.
    »Heute nacht kommt Licht aus Vigàta.«
    »Licht? Was für ein Licht denn? Morgenröte?«
    »Ja, Vater.«
    Ohne eine Silbe zu sagen, bedeutete der Ingenieur dem
    ihn an, der sich niemals unter den vermeintlich unschuldigen Augen des Sohnes im Nachtgewand zeigen würde.
      Gerd gehorchte. Es mußte schon etwas Seltsames geschehen sein, dachte der Ingenieur, während er sich den Hausrock überzog und zum Abtritt ging. Ein einziger Blick genügte ihm. In Vigàta war nicht die Morgenröte, sondern ein Brand, und zwar ein recht großer, ausgebrochen. Spitzte man die Ohren, war sogar das verzweifelte Glockengeläute einer Kirche zu hören.
      »Mein Gott!« stieß der Ingenieur atemlos heraus. Freudengebrüll und Entzückensschreie nur mühsam zurückhaltend, kleidete er sich in fieberhafter Eile an, öffnete die Schublade des Schranks, zog eine große vergoldete Trompete mit Tragriemen heraus, stürzte aus dem Haus und vergaß sogar, die Tür hinter sich zu schließen.

    Auf der Straße hob er zu einem langgezogenen Freudengewieher an und nahm die Beine unter den Arm. Endlich würde er Gelegenheit haben, das geniale Feuerlöschgerät einzuweihen, das nach seinen Entwürfen in langen Monaten hingebungsvoller Arbeit außerhalb der Arbeitszeit im Bergwerk entstanden war und das er patentieren lassen wollte. Es handelte sich um einen länglichen Handkarren ohne Seitenwände, auf dessen Tragfläche eine schwere Eisenplatte eingelassen war. Auf Druck, daß das kalte Wasser mit Wucht aus dem größeren Brennkolben herausschoß. An den großen Karren war ein kleinerer angehängt, der Brennholz und zwei zusammensetzbare Trittleitern mit sich führte. Das Ganze wurde von vier Pferden gezogen; die Mannschaft der freiwilligen Feuerwehr bestand aus sechs Leuten, die an den Seiten des großen Karrens standen. Der Ingenieur hatte seinen Platz an der Seite des Kutschers. Bei den Übungen und beim Probealarm hatte das Gerät bislang immer gut abgeschnitten.
    Als Fridolin Hoffer die Straße quer durch das ehemals
    arabische Viertel Ràbato einschlug, wo jetzt Bergwerksleute und Schwefelgrubenarbeiter lebten, holte er tief Luft und stieß auf der Trompete einen ganz hohen Ton aus. Er ging die ganze Straße entlang und spürte vor Anstrengung den Schmerz in der mächtigen Brust, wenn er in die Trompete blies. Am Ende der Straße machte er kehrt und begann erneut zu trompeten.
    Die nächtlichen Klänge hatten beinahe sofort Erfolg. Die Männer der freiwilligen Feuerwehr, die instruiert worden waren, was das unsanfte Wecken durch Trompetenstöße mitten in der Nacht zu bedeuten hatte, schlüpften schnell in ihre Kleider und beruhigten ihre zitternden, weinenden Ehefrauen und Sprößlinge. Dann eilte einer von ihnen, den Lagerraum aufzuschließen, in dem das Gerät aufbewahrt wurde, und der Kutscher sorgte dafür, daß die Pferde paarweise vor den Vierspänner gestellt wurden; ein dritter Heiligenanrufungen verriegelten sie Haustüren und Fenster. Die dreiundneunzigjährige Nunziata Lo Monaco, unsanft aus dem Schlaf gerissen, setzte sich im Bett auf und war fest davon überzeugt, daß der Aufstand von 1848 wieder losging. Darauf verlor sie das Bewußtsein und kippte stocksteif nach hinten. Verwandte fanden sie bei Morgengrauen tot auf ihrem Lager und machten das schwache Herz und das hohe Alter dafür verantwortlich. Gewiß nicht das hohe C des Deutschen.
      Als man mit den Vorbereitungen fertig war, hatte sich die Mannschaft um den Ingenieur geschart. Die Männer waren erregt und ergriffen ob der großartigen Gelegenheit, die sich ihnen bot. Der
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