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Die Sekte der Engel: Roman (German Edition)

Die Sekte der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Die Sekte der Engel: Roman (German Edition)
Autoren: Andrea Camilleri
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diesem Moment bekam er vor Erregung einen Nervenanfall. Steif wie ein Pfahl, verdrehte er die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und kippte nach hinten um. Solche epileptischen Anfälle hatte er gelegentlich. Man verlor eine weitere Viertelstunde damit, ihn wieder zu Bewusstsein zu bringen, um ihn zu seiner Kutsche zu geleiten.
    «Signor Presidente, erteilen Sie mir bitte das Wort?», verlangte der Notar Giallonardo.
    «Gewährt.»
    «Sie sagten soeben, die Bürgen für Avvocato Teresi seien Marchese Don Filadelfo Cammarata und Barone Lo Mascolo gewesen. Trifft das zu?»
    «Es trifft zu.»
    «Nun, da Don Filadelfo erklärt hat, er habe zweimal mit der schwarzen Kugel gestimmt, macht diese wiederholte Handlungsweise seine vorausgegangene Bürgschaft praktisch zunichte, ich würde sogar sagen, sie ist damit annulliert. Wenn die Dinge so stehen, wird folglich für die Kandidatur von Avvocato Teresi nur noch mit einer Unterschrift gebürgt, jener von Barone Lo Mascolo. Laut Satzung jedoch reicht ein einziger Bürge nicht aus. Ergo verhält es sich so, als hätte Avvocato Teresi niemals einen Aufnahmeantrag gestellt.»
    «Ei, verflucht, was für ein kluger Kopf!», bemerkte Don Stapino Vassallo bewundernd.
    «Das scheint mir hieb- und stichfest», sagte der Vorsitzende. «Sind die Signori einverstanden mit …»
    «Ja! Ja!»
    Ein einstimmiger Chor.
    «Dann ist die Sitzung hiermit aufgehoben», erklärte der Vorsitzende.
    Und augenblicklich entstand ein allgemeines Rennen und Flüchten, ein Schieben und Schubsen, denn alle wollten hinaus, um zur letzten Sonntagsmesse in die jeweiligen Kirchen laufen.
    Palizzolo, ein Städtchen mit siebentausend Einwohnern, mitten zwischen großen Latifundien gelegen, rühmte sich im Jahre neunzehnhunderteins zweier Marchesi, vierer Barone, eines Herzogs von hundertzwei Jahren, der sein Schloss nicht mehr verließ, und eines Märtyrers im Kampf gegen die Bourbonen, Avvocato Ruggero Colapane, der wegen seiner Parteinahme für die Neapolitanische Republik öffentlich aufgeknüpft worden war.
    Doch der größte Stolz des Ortes waren die acht Kirchen, jede mit Glockenturm und so gewaltigen Glocken, dass ihr Geläut, wenn sie alle zusammen erklangen, für die Häuser einem mittleren Erdbeben gleichkam.
    Sieben dieser acht Kirchen hatten der Adel und die Grundbesitzer untereinander aufgeteilt, je nach Vorlieben und Abneigungen, akzeptierten und abgelehnten Verwandtschaften, alten Animositäten, Scharmützeln, deren Ursprünge bis in die Zeit Karls V. reichten, Zivilprozessen, die in der Ära Friedrichs II. des Staufers begonnen hatten und nach der Einigung Italiens noch immer andauerten, unversöhnlichem Hass und wechselnden Liebschaften.
    Darum würde es zum Beispiel in der Kirche der Schmerzensreichen Muttergottes niemals zu einer Begegnung zwischen einem wie Don Stapino Vassallo und einem wie Don Filadelfo Cammarata kommen, niemals würden sie gemeinsam der vom Pfarrer Don Angelo Marrafà gelesenen Messe beiwohnen.
    Denn anno 1514 war eine Urahnin von Don Stapino, die schöne Atanasia, sechzehnjährig mit einem Vorfahren des Marchese Cammarata, einem vierzigjährigen Mann namens Adalgiso, verheiratet worden. Nach zwei Jahren zwar gültig geschlossener, doch wegen impotentia coeundi des Ehemanns nicht vollzogener Ehe war Atanasia es überdrüssig, als Klausurnonne zu leben, obwohl sie verheiratet war, und begann sich umzuschauen. Und nachdem sie mal hierhin, mal dorthin geschaut hatte, sah sie sich plötzlich geschwängert, von einem Stallknecht, hieß es. Adalgiso schickte seine Frau zu ihren Eltern zurück und beschuldigte sie, eine Hure zu sein, Atanasia erwiderte, ihr Mann versage bei der gewissen Angelegenheit, sein Ding sei aus Ricotta. Seither Anklagen, Prozesse und Streitigkeiten ohne Ende, weshalb die beiden Familien sich nicht nur nie mehr grüßten, sondern auch keine Gelegenheit versäumten, sich gegenseitig zu schaden.
    Die achte Kirche, die zum Gekreuzigten Heiland, mit dem siebzigjährigen Don Mariano Dalli Cardillo als Pfarrer, wurde weder vom Adel noch von den Grundbesitzern, ja nicht mal vom Bürgertum besucht. Es war die Kirche der Bauern, der armen Leute, derjenigen, die von Luft und Liebe leben.
    «Meine geliebten Schäfchen», hub Don Alessio Terranova, Pfarrer der Kirche San Giovanni an, als er bei der Predigt angekommen war. «Heute bin ich gezwungen, über einen ernsten Vorfall zu euch zu sprechen. Ein Käseblättchen, welches ein Anwalt aus unserer Stadt,
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