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Die Seherin von Garmisch

Titel: Die Seherin von Garmisch
Autoren: Martin Schueller
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anderen mitnehmen solle. Aber er kam immer wieder, wann
und sooft er wollte. Manchmal ließ er sie für Wochen in Frieden, so lange, dass
sie dachte, er habe sie vergessen, aber irgendwann kam er doch immer wieder und
nahm sie mit, ohne dass ihn scherte, was er ihr antat.
    Johanna schenkte sich noch einen Kaffee ein, den
dritten, den sie sich sonst immer verkniff, und überlegte angestrengt, wo der
Ort sein konnte, den der Adler ihr gezeigt hatte. Sie wusste, dass sie schon
einmal dort gewesen war, aber es wollte ihr nicht einfallen.
    Eine schmale, steile Forststraße, grauer Schotter, ein
Holzlagerplatz. Es gab so viele davon rund um Garmisch, aber sie wusste, dass
sie diesen Ort kannte. Und dann, plötzlich, sah sie die Straße vor sich, die
sich von Burgrain steil zum Grubenkopf und weiter zum Reschberg und zum
Felderkopf hochschlängelte. Dort waren sie oft gewandert, vor Jahren, als das
Bienerl noch lebte und Severin noch klein war und mit Freude steile Berge
hinaufgelaufen war. Dort gab es so einen Platz, irgendwie übergeblieben beim
Bau des Weges. Sie hatten dort auf ein paar großen Steinen gesessen und
gevespert.
    Mit einem entschlossenen Nicken stand sie auf und
räumte den Frühstückstisch ab. Dann zog sie ihre blaue Windjacke über, griff
nach dem Schlüssel für ihren kleinen Nissan und verließ das Haus.
    * * *
    Erster Kriminalhauptkommissar Schwemmer sah zweifelnd
und mitleidig auf seine Frau hinunter, die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht
Zentimeter um Zentimeter an seiner Hand aus der Waagerechten zog. Es dauerte
endlos, bis sie aufrecht saß, und noch einmal fast genauso lange, bis sie die
Füße auf dem Boden hatte.
    »Burgl, ich ruf jetzt Doktor Vrede an. Das guck ich
mir nicht länger an«, sagte Schwemmer. »Seit drei Tagen geht das jetzt schon.
Lass dir doch bitte eine Spritze geben.«
    Aber Burgl sah ihn nur an, und er knickte ein, bevor
er richtig angefangen hatte. Sie hatte eine so tief sitzende Abneigung gegen
Spritzen, dass selbst ein Drei-Tage-Hexenschuss sie nicht dazu brachte, sie
aufzugeben.
    In Zeitlupe zog sie sich an seiner Hand hoch.
    »Im Stehen geht’s schon wieder«, sagte sie und
lächelte ihn an.
    Schwemmer schüttelte den Kopf. »Mag ja sein, aber wie
kommst du die Stiege runter?«
    »Das geht schon«, sagte sie und strafte den Optimismus
in ihrer Stimme Lügen mit ihrer Körperhaltung.
    Schwemmer warf einen Blick auf die Uhr, dann ging er
zu seinem Nachttisch, nahm das Telefon aus der Ladeschale und rief sein Büro
an.
    »Frau Fuchs«, sagte er, als seine Sekretärin sich
meldete, »ich komm eine halbe Stunde später heute. Hab ich irgendwelche
Termine? … Oh …«
    Frau Steinbach. Die hatte er vergessen. Frau Steinbach
von den Mietwäsche-Steinbachs. Sie hatte den Plan, im Landkreis einen
Verkehrskasper zu engagieren, der Kindern richtiges Verhalten im Verkehr
nahebringen sollte, so wie sie es in Hamburg gesehen hatte. Der EKHK Dengg von den Uniformierten war in
Urlaub, und mit niederrangigen Vertretungen ließ sich eine Frau Steinbach nicht
abspeisen. Und da es ihr ein dringendes Anliegen war, war der Termin um halb
acht.
    Ein Puppenspieler, dachte Schwemmer. Ein Puppenspieler
für Kinder.
    Im dritten Jahrtausend.
    »Sagen Sie ihr … Sagen Sie ihr irgendwas. Ich müsse
einen Mord aufklären oder so was … Ja, danke Frau Fuchs.« Er stellte das
Telefon wieder an seinen Platz, griff nach der Packung mit dem ABC -Pflaster und folgte seiner Frau, die
auf dem Weg zur Treppe bereits locker zweieinhalb Meter zurückgelegt hatte.
    Er kam am Ende dann fast vierzig Minuten zu spät, weil
er in der Rießerkopfstraße hinter der Müllabfuhr hängen geblieben war und nicht
mehr rückwärts in die Waxensteinstraße ausweichen konnte, da dicht hinter ihm
ein Möbelwagen fuhr. Seine Laune war deutlich unter mittel, als er endlich an
seinem Schreibtisch saß.
    Und das war offenbar merklich, denn Frau Fuchs brachte
unaufgefordert, sofort und freundlichst einen Becher Kaffee. Mit einem
mütterlichen Lächeln im Gesicht wartete sie geduldig, bis er den ersten Schluck
getan und seine Züge sich etwas geglättet hatten.
    »Da ist noch einer von der Zeitung«, flüsterte sie
dann. »Der war nicht angemeldet, wartet aber.«
    Schwemmers Gesicht zerfaltete sich wieder.
    »Was will der denn?«, fragte er mit jammerndem
Unterton. »Kann Schafmann sich nicht um den kümmern?«
    »Hauptkommissar Schafmann ist im Einsatz«, flüsterte
Frau Fuchs sanft.
    »Was ist denn?«
    »Grabschändung. In
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