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Die Seherin von Garmisch

Titel: Die Seherin von Garmisch
Autoren: Martin Schueller
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verschwunden war, dann ging sie leise über den Flur zur Stiege und sah
hinauf. Durch den Spalt der Dachbodentür leuchtete ein schwacher Lichtschein.
Johanna setzte einen Fuß auf die unterste Stufe, aber das laute Knarren, mit
dem die Stiege darauf antwortete, ließ sie innehalten. Es hatte keinen Sinn,
jetzt an Severins Tür zu klopfen. Wahrscheinlich würde er Kopfhörer tragen und
seine Bassgitarre spielen und sie gar nicht hören. Und wahrscheinlich würde er
sie auch nicht hineinlassen.
    Sie ging zurück in ihr Zimmer. Der Wecker zeigte nach
drei. Sie streifte das klamme Nachthemd vom Körper und holte ein frisches aus
dem Kleiderschrank. Dann schüttelte sie Kissen und Federbett auf, drehte beide
um und legte sich wieder ins Bett.
    Sie lag wach im Licht ihrer Nachttischlampe. Es gab diese Träume. Natürlich. Der Adler begleitete sie seit dem Ende ihrer Kindheit,
bald fünfzig Jahre nun.
    Sie hatte schon lange Zeit zu niemandem mehr darüber
gesprochen. Oft, meist sogar, gab es auch gar nichts zu erzählen. Der Adler
zeigte ihr das Land, den Himmel, die Berge, sogar das Meer manchmal. Und
Geschehnisse, die sie nicht verstand. Handlungen von Menschen, die sie nicht
kannte.
    Und sie sah Menschen sterben – und geboren werden. Den
Tod und das Leben. Ja, der Adler hatte ihr viele Tode gezeigt. Sanfte und
harte, schmerzhafte und unerwartete. Wichtige und unwichtige.
    Die wichtigen – die für Johanna Kindel wichtigen, die
beiden wichtigsten von allen –, die hatte er ihr nicht gezeigt.
    Und dafür war sie dankbar.
    Es war fast so wie vor dreizehn Jahren, als sie das
letzte Mal vom Adler erzählt hatte. Damals hatte sie es sehr bereut. So sehr,
dass sie es nie wieder getan hatte. Und es war die richtige Entscheidung
gewesen.
    Aber nun war alles anders. Sie kannte diesen Jungen,
und das Gesicht des Mörders würde sie nie mehr vergessen. Sie wusste nicht, was
sie tun sollte.
    Sie schlief erst ein, als hinter den Gardinen ihres
kleinen Fensters bereits der Morgen dämmerte; und als viel zu bald darauf ihr
Wecker fiepte, musste sie alle Kraft aufbieten, um aufzustehen und den Kindern
das Frühstück zu machen.
    Danni kam als Erste, wie eigentlich immer. Sie gab
Johanna einen nach Zahncreme schmeckenden Kuss auf den Mund und rutschte dann
auf die Bank.
    »Geht’s dir besser, Großmama?«, fragte sie.
    Johanna nickte lächelnd, aber offenbar hatte die Nacht
solche Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen, dass sie nicht einmal eine
Zehnjährige überzeugen konnte.
    »Oder bist krank?«, fragte Danni.
    »Na«, antwortete Johanna nur und begann, Pausenbrote
zu schmieren. »Weißt, wann der Seve in de Schul muss?«
    »Zur zweiten, glaub i«, antwortete Danni. Sie biss in
ihr Nutellabrot und ließ Johanna nicht aus den Augen – großen, besorgten
Kinderaugen. »I möcht nicht, dass du krank wirst«, sagte sie ernst.
    »I pass scho auf mi auf«, antwortete Johanna, ebenso
ernst.
    Sie würde alles tun, dass Danni und Severin nicht
allein zurückblieben; solange es irgendwie ging, würde sie bei ihnen bleiben,
bei ihnen bleiben müssen.
    Sie durfte keine Fehler machen. Die Kinder brauchten
sie. Auch wenn Severin das anders sah.
    So anders, wie siebzehnjährige Buben etwas anders
sehen konnten. Ganz anders eben.
    Als Severin herunterkam, war Danni schon weg. Es
blieben ihm keine fünf Minuten fürs Frühstück, wenn er den Bus nicht verpassen
wollte. Er gab ihr natürlich keinen Kuss, und wenn, hätte der wahrscheinlich
nicht nach Zahncreme geschmeckt.
    Er stieß nur ein Brummen aus, schenkte sich einen
Kaffee ein und trank ihn geräuschvoll. Er schien nichts essen zu wollen, wie so
oft.
    Johanna sorgte sich deshalb, er magerte mehr und mehr
ab. Jungen im Wachstum mussten essen, aber er tat es nicht, zumindest nicht in
ihrer Gegenwart. Sie hatte ihm Brote mit Käse belegt und eingepackt. Wurst und
Fleisch aß er gar nicht. Er hatte sie geradezu beschimpft, als er einmal Salami
auf seinem Brot vorgefunden hatte, nachdem er sich zum Vegetarier erklärt
hatte. Immerhin den Käse hatte sie ihm abhandeln können.
    Sie bemerkte erleichtert, dass er ein sauberes T-Shirt
trug. Natürlich war sein Kleiderschrank stets voll mit sauberer Wäsche, aber er
trug immer dieselbe schwarze Jeans und wechselte zwischen höchstens drei
ebenfalls schwarzen, mit grauslich bluttriefenden Motiven bedruckten T-Shirts.
Und er hatte immer dieselbe Lederjacke an, die er auf dem Flohmarkt in Oberau
gekauft hatte.
    Dass er seit einigen Monaten Kajal um
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