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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest
Autoren: Jürgen Seidel
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ich das Wort ergreife und nicht umgekehrt. Das ist Ihr Problem, Summers, dass Sie die Welt immer auf den Kopf stellen müssen. Sie sind vermutlich der Auffassung, dass die Welt, wie Gott sie geschaffen hat, schlecht sei. Am Ende gar, weil Ihr persönlicher Platz darin ein bisschen unbequem ist. Nun, Master Summers, ich habe mir vorgenommen, diesen Platz für Sie noch unbequemer zu gestalten, und glaube damit im Sinne Gottes zu handeln. Ich nenne Ihr Verhalten anmaßend, ich sehe Hochmut, lieber Freund, und ich gedenke ganz entschieden dagegen einzuschreiten…« Er räusperte sich ausgiebig. »Und nun zu unserem Thema, Gentlemen.«
    Eine Pause entstand. Er blickte zu einem der hohen, schmalen Fenster aus blindem, bläulichem Glas. Das Laub einer Kastanie, die fast den Hof ausfüllte, projizierte Schatten, wenn die Sonne schien.
    »Dieses Licht ist das Licht Gottes.« Clifford deutete zu dem Fenster. »Wer denkt, die Welt sei ohne Gott, übersieht, dass es das Licht gibt. Gäbe es keinen Gott, so wäre alles um uns dunkel, rabenschwarz. Aber wir sehen Licht, ergo: Wir erkennen Gott.«
    Andrew Whisper mahlte mit den Zähnen. Er hielt die Luft an, zählte bis sieben und fragte halblaut in die Stille: »Und die Blinden?«
    Cliffords Blick traf ihn wie das Licht Gottes mitten in sein Herz. Er biss sich auf die Zunge. Er ließ die Luft aus seinen Lungen strömen, ihm wurde heiß. Clifford stand über ihm.
    »Die Blinden werden sehend, Master Whisper. So steht es in der Schrift. Was haben Sie geflüstert?« Clifford blickte lauernd auf ihn nieder und fuhr fort: »Die Blinden werden sehend, weil sie im Tod zu Gott kommen, der ihnen sein Licht schenkt. Leuchtet das nicht sogar Ihnen ein, ha, ha?«
    Andrew duckte sich und musste grinsen. Licht ist Gott und Gott ist Licht, das mochte schon so sein. Was aber, wenn nun einfach bloß die Sonne scheint…?
    »Was ist so komisch, Master Whisper? Finden Sie meine Argumentation belustigend? Wir wollen alle lachen.« Cliffords Blick wanderte zur Zimmerdecke empor. Sie war überall wolkig vom Ruß und über dem eisernen Ofen in der Ecke noch dunkler.
    »Ich weiß, was Master Whisper denkt«, sagte Clifford. »Er denkt, das Licht könnte ja auch ohne Gott da sein… einfach so. Die Sonne am Himmel scheint und es ist hell. Mehr braucht es nicht. Und wenn unser Master Whisper draußen am Fluss ein Feuer entzündet, um den Fisch zu braten, den er gefangen hat, dann steckt da auch nicht Gott dahinter, sondern Master Whisper und niemand sonst.« Er sah Andrew triumphierend an.
    Andrew schüttelte vorsichtig den Kopf. Aber Clifford hatte sich schon festgebissen.
    »Doch. Und nehmen wir einmal an, Master Whisper hätte Recht…« Er trat zu Charles, der vor ihm auf den Erbsen kniete, und legte seine Hände auf dessen Schultern. Charles’ Jungengesicht verzerrte sich, er wusste, was bevorstand. Clifford drückte, erst zaghaft, dann fester, auf die Jungenschultern. Man sah es in Charles’ Augen, die sich langsam füllten, während sein Mund weiß wurde.
    »Bitte!«, hauchte er und machte einen hohen Ton, der sich im Raum verlor.
    »Master Whisper«, sagte Clifford, »löscht Gott aus. Er denkt ihn einfach weg.« Plötzlich senkte er die Stimme und rief mit aufgesetztem Pathos: »Die Welt ist ohne Gott!… Wir sind ohne Gott!« Er ließ Charles’ Schultern los und straffte sich.
    »Merkt ihr es? Spürt ihr es?«, flüsterte er. »Fühlt ihr die Leere, die tödlich werden kann?« Er ging mit großen Schritten bis zur Wand, folgte ihr zum hinteren Teil des Raums und blieb dort stehen. Keiner der einundzwanzig Jungen wagte es, sich umzuschauen. Es war so still, dass man Cliffords Lederschuhe knarren hören konnte, obgleich er keinen Schritt mehr tat.
    Charles schnaufte kurz. Irgendwo draußen schrie ein Esel.
    »Nehmen wir also an, die Welt sei ohne Gott! Es gibt ihn nicht und nicht sein Licht, seine Güte, Gerechtigkeit, seinen stillen Blick in jedes Herz, sein Wissen, was uns morgen blüht, was uns in der nächsten Stunde erwartet. Die Welt… ist… leer. Leer, Gentlemen, unendlich leer!« Er dehnte, was er sagte, und jeder Junge krümmte sich, um dieser Leere zu entkommen.
    »Und diese Leere«, rief Clifford plötzlich, »wird jeden Einzelnen an seiner Einsamkeit verzweifeln lassen! Denn das ist es, was bleibt, wenn Gott nicht existiert: die Einsamkeit. Gott ist das Netz, in welchem wir uns verfangen, aber er ist auch das Netz, das uns zusammenhält, das uns als Gemeinschaft aller Christen
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