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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest
Autoren: Jürgen Seidel
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sie geweint. Die Liebe zwischen ihnen war so stark gewesen, dass beiden schwindelig wurde.
    Sie hielten sich aneinander fest und hätten sich beinah geküsst.
    Jetzt kam sie angeritten. Raspale grüßte vornehm. Es war ein Kopfnicken, das niemand außer Andrew überhaupt wahrgenommen hätte. Der alte Mann ritt an Margaret vorbei, brachte seinen Rappen vor dem Jungen zum Stehen und sagte: »Nur eine Stunde, junger Mann. Ich bin sehr ungeduldig.«
    »Ich danke Ihnen, Sir«, antwortete Andrew.
    Margaret stieg ab. Sie sprang, sie war beweglicher als andere Mädchen, jungenhaft beinah. Sie zog die starre Kappe von ihrem Kopf, wickelte das Haarband ab und schüttelte die langen, braunen Haare aus. Raspale schimpfte gleich, weil es sich wirklich nicht gehörte.
    Sie drehte sich im Kreis, blieb dicht vor Andrew stehen und streckte beide Hände vor. Er nahm sie und hätte sie jetzt liebend gerne fest umarmt. Stattdessen hielt er ihre Hände fest und fühlte sie. Der Alte drüben schnalzte mit der Zunge, das Pferd drehte sich herum und trug ihn fort, ein Stück in Richtung Bankside.
    Endlich waren sie allein. Am liebsten hätte er sie einfach nur so angesehen.
    Sie lächelte, ein wenig angestrengt. »Ich habe mir fest vorgenommen, meinen Vater umzustimmen. Ich zwinge ihn mit aller Macht.«
    »Den kann nicht mal der König zu was zwingen«, sagte Andrew.
    »Ich steige zu ihm hoch in seinen Arbeitsturm und klopfe an die Tür.«
    »Und was willst du ihm sagen?«
    »Dass wir uns lieben.«
    »Das weiß er schon«, entgegnete Andrew. »Das will er gar nicht hören.«
    »Ich will es!« Sie zog seine Hände an ihre Lippen und küsste sie. »Wie süß das wäre!«
    Sie wandte sich zur Seite und blickte über den Fluss zur Stadt.
    Andrew betrachtete ihr Profil, die schöne, lange Nase, ihre Stirn, das Kinn, das etwas vorsprang, wie ihr Wille. Er zog sie ein Stück den Weg entlang, bis zu ihrem Herzbaum, so nannten sie einen alten Stamm, der dort im Gras lag. Sie setzten sich.
    »Die Stiefmutter Alice ist sowieso auf meiner Seite«, rief Margaret, »die Geschwister ebenfalls!«
    »Die kennen mich doch gar nicht.«
    »Ich habe dich beschrieben. Die großen, grünen Augen, die starken Hände, deine schöne Stimme, alles, alles.« Sie wurde plötzlich traurig. »Ich weiß, dass es trotzdem niemals sein darf. Ich weiß es ja.« Sie sah ihn an, rückte ein Stück näher, sie fühlte seine Wärme.
    »Wir könnten fliehen«, sagte Andrew. »Zu den Whitefrairs oder nach St. Martin’s le Grand oder in eins der anderen Asyle mitten in der Stadt, wo es nur Diebe und Mörder gibt und uns niemand suchen wird. Aber dann werde ich kein Anwalt und du hast Griechisch und Latein umsonst gelernt.«
    »Und wenn schon!«
    Andrew wusste, was sie dachte. In Wahrheit würde sie niemals auf das verzichten, was sie daheim gelernt hatte. Sie liebte es, zu lesen und zu schreiben oder sich um irgendeinen Bibelvers zu streiten, wie er zu verstehen sei.
    »Ich möchte nach Italien!« Sie strahlte. »Ich will, dass du mich raubst, entführst. Nur ein paar Tage lang.« Sie boxte ihn.
    »Und wenn wir wiederkommen, raubt mich dein Vater. Dann kannst du meinen abgeschlagenen Kopf oben auf dem Brückentor bewundern. Ich grinse immer noch, während die Krähen schon mein Wangenfleisch verspeisen…«
    »Lass das, Andrew!«, rief sie. »Das ist kein Spaß!« Sie sah ihn traurig an.
    »Entschuldige…«
    »Ich bin genauso wütend auf ihn wie du. Aber du sollst ihn nicht schlecht machen. Das will ich nicht. Er hat es schwer.« Sie schmollte. »Ich sehe ihn kaum, weil er nur dauernd über seinen Büchern und Papieren hockt. Wenn ich ihn bitte, mit mir auszureiten, zeigt er mir sein Tagebuch, in dem er festhält, wann er ins Gericht nach Whitehall oder nach Westminster muss.«
    Er nahm ihre Hände und führte sie zu seinen Lippen. Da war sie schon versöhnt.
    Sie schwiegen eine Weile. Dann sprang Andrew plötzlich auf, als hätte Margaret ihn gezwickt, und machte ein paar Schritte von ihr weg. Es war Verlegenheit. Er dachte an den Tagtraum, der ihn von Zeit zu Zeit befiel wie Fieber. Er stellte sich vor, wie es wohl wäre, mit Margaret in einem Bett zu liegen. Sie wären beide unbekleidet. Sie würden sich auf keinen Fall berühren. Sie würden schweigend liegen und jeder würde an den anderen denken. Das wäre alles. Er schämte sich, so etwas überhaupt zu denken. Was würde Margaret sagen, wenn sie es wüsste?
    Andrew ging zu ihr, reichte ihr die Hand und zog sie von dem
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