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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest
Autoren: Jürgen Seidel
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eint. Ohne dieses Netz ist jeder auf sich selbst geworfen und verloren. Und jetzt verstehen wir mit einem Mal, warum es junge Menschen gibt, die… die sich töten, weil sie denken, dass…«
    Andrew Whisper streckte seinen Fuß vor und gab der Bank seines Vordermanns einen leisen Tritt. Es war Gregor Gascoignes Bank. Gregor zuckte zusammen. Natürlich hatte auch er längst begriffen, dass Clifford von dem sprach, was in den Briefen stand.
    »Master Summers!«, rief der Lehrer. »Ohne Gott zu sein bedeutet, nicht bloß knien, solange ich rede, sondern ewig knien, mit keinem Ende, keinem Ziel und keiner noch so fernen Erlösung von der Qual!« Clifford kam zurück nach vorne. »Und Sie, Master Whisper! Ich habe Ihre Fußnachricht an Ihren Vordermann durchaus bemerkt, ich bin nicht blöde.«
    Andrew beherrschte sich, blickte zu Boden, muckste sich nicht und hörte nur, wie Charles vorne leise zu heulen anfing, wie ein Wickelkind. Das Wimmern wurde immer lauter.
    »Fassen Sie sich!«, schrie Clifford. »Gott hat Sie nicht verlassen, Sie selbst haben ihn in den Abgrund gestürzt, jetzt müssen Sie dafür bezahlen. Aber wem Gott verloren geht, der darf nicht glauben, dass er damit auch nur im Geringsten den wahren, den einzigen Gott auslöscht. Sie, Summers, haben Ihren eigenen Gott getötet, nur Sie sind jetzt allein, wir anderen nicht! Oder, Master Whisper?…«Er brannte seinen Blick in Andrews Kopf.
    »Wie steht es denn um Ihren Gott, um den persönlichen Andrew-Whisper-Gott? Wurde er womöglich ebenfalls über Bord geworfen, weil man ihn nicht mehr brauchte, weil die Sonne gewiss auch ohne ihn am Morgen aufgeht? Sagen Sie es uns, Whisper, wir sind alle furchtbar neugierig!« Er blitzte angriffslustig, fuchtelte mit den Händen und zog hörbar Luft durch seine Nase hoch.
    »Eine Posse!«, rief er. »Jawohl, eine Posse ist das alles. Sieben Jungen, die sich mit eigener Hand entseelen. Gefährlich, Gentlemen, überaus gefährlich! Whisper, haben Sie sich jemals die Finger verbrannt, am Herdfeuer etwa? Es tut verdammt weh. Aber nun stellen Sie sich vor, was dort unten im Fegefeuer geschieht, wo jetzt diese Jungen schmachten! Master Summers, hören Sie auf zu heulen und hören Sie mir zu! Glauben Sie, dass die sieben sich dort auch bloß die Finger verbrennen? Nein, man verbrennt ihnen die gesamte Haut, den ganzen Körper, alles, ohne Gnade und mit nur einer sehr kleinen Aussicht auf Linderung, auf Vergebung. Nein, ich fürchte, in Gottes Fegefeuer geht es grausam zu, sehr grausam, Master Whisper, überaus grausam…« Clifford japste. »Dafür sind die Sünden der Menschen zu immens, als dass man sie mit Herdfeuerverbrennungen an den Fingern ahnden könnte!«
    Er wandte sich wieder Charles zu. »Begreifst du also, Summers, wie giftig diese Gedanken sind?«
    »Ja, Sir!« Der Junge zitterte am ganzen Leib. Der Boden unter ihm hatte schmierige Flecken, an den Knien klebte Blut.
    »Erkennst du auch, dass die Welt ohne Gott öd und leer ist?«
    »Oh ja, Sir.«
    »Gut so, Master Summers«, sagte Clifford. »Sie dürfen sich erheben. Und, Gentlemen, ich fordere Sie auf zu schweigen, wenn Sie diesen Raum verlassen! Kein Wort nach draußen über diese Dinge!«
    Charles fiel nach vorne, stützte die Hände auf und kippte wie leblos zur Seite.
    »Helft ihm doch!«, befahl der Lehrer.
    Sofort sprangen einige Jungen aus der ersten Reihe auf und fassten Charles unter die Arme. Jemand holte ein Tuch und wischte die Steine sauber, putzte jede einzelne Erbse und legte sie in eine kleine Schale auf dem Lehrerpult.
    Clifford stand abseits mit verschränkten Armen. Andrew beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Die Züge des Lehrers waren jetzt entspannt.
    »Master Whisper«, rief er plötzlich.
    Es wurde still.
    »Was war das auf der Brücke?«
    »Auf der Brücke, Sir?«, fragte Andrew. Ihm wurde schwindelig.
    »Gestern Abend«, sagte der Lehrer. »Eine flache Karre und die Tochter unseres ehrenwerten Unterschatzkanzlers, auf einem schönen Fuchs, wenn ich nicht irre…«
    »Ja, Sir.«
    »Was, ja, Sir?«
    »Ich…«, stotterte Andrew und fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht stürzte. »Der Diener des Unterschatzkanzlers, Sir… er hatte mich gebeten… mir befohlen, in Southwark eine Fuhre Lindenholz zu holen.«
    Clifford runzelte die Stirn.
    »Sie lügen, Master Whisper. Ich fühle es.« Er stand vor der Klasse und hielt plötzlich eine Weidengerte in der Hand. Seine Augen funkelten. Er hob die Gerte und schlug aufs Pult.
    »Good
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