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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest
Autoren: Jürgen Seidel
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order, Gentlemen! Der Unterricht ist keineswegs beendet. Master Summers, sind Sie wiederhergestellt?« ) »Jawohl, Sir«, sagte Charles. Ihn plagten noch die Schmerzen, aber er hatte sich, wie alle anderen, auf seinen Platz gesetzt.
    Der Lehrer balancierte die Rute waagerecht auf einem Finger. Irgendwo tönte ein Glöckchen.
    »Bona mors est homini, vitae quae exstinguit mala… Charles Summers!«
    Charles stand auf, fasste sich an den Mund und hüstelte. »Der gute Tod… nein… Der Tod ist gut… der… der das Leiden… beendet…«
    »Na sieh mal an, Charles, Junge!«, sagte Clifford wohlwollend. Dann drehte er sich um. »Master Whisper!… Ubi nil timetur, quod timeatur, nasatur.« Er lauerte geduckt wie eine Katze.
    Andrew überlegte. Dann sagte er: »Wo Furcht nicht herrscht, gebiert sich was zum Fürchten.«
    »Alle Achtung, Whisper!« Der Lehrer zog die Brauen hoch und nickte. Aber sein Lob war geschwindelt, Andrew wusste es, jeder wusste es. Clifford lobte nie.
    »Die liebe Angst«, sagte der Präzeptor singend und spitzte den Mund, als wollte er pfeifen. »Was wären wir ohne sie? Unsere Seele triebe formlos auseinander. Die Angst ist der Zaun, der uns Kontur gibt.« Er schoss Andrew einen Blick zu. »Man muss nur drohen.«
    Andrew brannte innerlich. Er spürte, wie sehr Clifford von sich selbst sprach, von seiner eigenen Angst.
    »Animus«, rief der Lehrer, »vereri qui scit, scit tuto ingredi… Master Biggs!«
    Ein schmächtiger Junge aus der dritten Bank erhob sich und wurde bleich. Man sah, wie Clifford sich freute, sein Mund zuckte.
    »Wie steht es, Biggs? Was macht die süße Furcht in Ihrem Herzen? Fühlt es die nahende Gefahr?«
    »Das Herz…«, sagte der Junge. »Das Herz kann ängstigen…«
    »Sich ängstigen, wenn überhaupt«, verbesserte Clifford.
    »Das Herz… das sich ängstigt…«
    »… kommt in Gefahren um«, meckerte der Lehrer und lachte. Er ging zum Pult, nahm das Schälchen mit den Erbsen und schüttete sie in seine Hand.
    »Das Herz«, stotterte Biggs, »das sich ängstigt, ist… gewappnet…«
    »Na, immerhin«, sagte Clifford abfällig und schlenderte die Fensterseite entlang. Plötzlich blieb er stehen. »Sehen Sie mich an, Biggs!«
    Der Junge zitterte.
    »Haben Sie Angst?«
    Biggs schwieg.
    »Ich habe Ihnen eine Frage gestellt!«
    »Ja, Sir«, sagte der Junge kaum vernehmbar.
    »Was, ja?«
    »Ja, ich habe Angst.«
    »Wovor?«
    »Vor Ihnen, Sir.«
    »Vor mir? Nein, Master Biggs. Sie lügen. Nicht vor mir, vor diesen Erbsen! Vor diesen winzigen, toten, lächerlichen Erbsen!«
    »Ja, Sir«, hauchte der Schüler.
    Clifford holte Luft. »Begreifen Sie, welche Macht diese Erbsen über Sie haben. Ein paar Erbsen, Biggs, es ist zum Totlachen. Und das Paradoxon ist, dass Ihre Angst umso begründeter ist, je weniger Erbsen es sind. Was sagen Sie?«
    »Ja, Sir.«
    »Wie ist das zu erklären? Es ist der Schmerz, das Mysterium des Schmerzes…« Er spähte durch die Bänke, eilte von Gesicht zu Gesicht. »Waterman!… Pro medicina est dolor, dolorem qui necat.«
    Der Schüler übersetzte. »Der Schmerz, der Schmerzen wegrafft, ist Arznei.«
    »So ist es!«, rief Clifford und blickte Andrew an. »Master Whisper, gibt es etwas, über das wir zu reden haben?« Clifford blitzte scharf. »Manchmal erleben wir ja Dinge… verstehen Sie mich nicht falsch… die erscheinen uns… zweifelhaft, erfunden, geträumt. Sagen Sie, Master Whisper… schlafen Sie eigentlich gut?«
    »Wie bitte, Sir?«
    »Ob Sie nachts gut schlafen.«
    »Ja, Sir«, antwortete Andrew. Er hielt Cliffords Blick stand.
    »Das ist sehr beneidenswert«, sagte der Lehrer. »Waterman, Biggs, bitte nehmen Sie Platz, es macht mich krank, wie Sie dastehen und… Vesper, Pause, Gentlemen!«, unterbrach er sich. »Sie sind entlassen. Master Whisper bleibt bei mir. Der Herr segne Sie und…« Clifford stellte sich neben die Tür, wo er die Hände ineinander legte und jedem der Jungen, die an ihm vorübergingen, in die Augen sah.
    Andrew blieb sitzen.
    Clifford schloss hinter dem Letzten die Zimmertür, blickte Andrew an und schob den Riegel vor. »Wir möchten alleine sein und ungestört, nur Gott soll uns als Zeuge dienen.«
    Er ging zum Pult und ließ die Erbsen eine nach der anderen in die Schale fallen. Dann sagte er: »Junger Mann, was erwarten wir voneinander. Dass zwischen uns ein Krieg beginnt? Sie würden ihn verlieren. Sie sind ein Schüler, Whisper, Sie sind doch eigentlich ein Kind…«
    Andrew zeigte keine Regung. Er war
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