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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest
Autoren: Jürgen Seidel
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Brückenpflaster klapperte der Wagen noch viel schlimmer als auf dem Uferweg. Die Decke rutschte weg. Andrew musste anhalten und sie feststecken. Der Hund bewegte sich, er schnaufte leise, blinzelte erschöpft. Andrew redete mit ihm, strich ihm die Schnauze. Er zog den Wagen weiter.
    »Clatter!«, rief er Margaret zu. »Ich nenne ihn Clatter. Weil er so furchtbar klappert.«
    »Der Karren klappert«, antwortete Margaret.
    »Der Hund genauso«, entgegnete Andrew lachend.
    Raspale drehte sich kurz um. Er war nervös. Die Söldner, Stadtsoldaten und Gassenvögte wurden für ihr Misstrauen bezahlt, damit nicht Diebe, Gauner, Mörder in die Stadt gelangten.
    Die Brücke war geschafft. Das zweite Tor versperrte jetzt den Weg. Raspale hielt abermals den Rappen an. Die Wachen kamen näher.
    Er zeigte das Papier. Die Männer rochen daran, als ob sie auf diese Weise sicherstellen könnten, dass das Siegel echt war.
    Der Alte sagte etwas. Die Wachen redeten. In diesem Augenblick entdeckte Andrew drüben an der Brückenflanke ein Gesicht, das ihn erschreckte. Es war der Lehrer Clifford, Präzeptor und stellvertretender Rektor des New Inn.
    Andrew duckte sich sofort, der Lehrer sah ihn nicht. Er sprach mit einem fremden Mann, einem Landsknecht wohl, der einen langen Mantel trug, ein groß gewachsener Kerl mit offenem, langem Haar. Er trug auffällige, enge Hosen, das eine Bein war rot, das andere blau und schräg gestreift. Die Streifen waren fingerbreit und quittengelb. Plötzlich fiel Andrew ein, dass es die Tracht von manchen jener Männer war, die draußen auf dem Fluss in einem Fährboot ruderten.
    Andrew schielte immer wieder hin und hoffte, dass die Wachen das Tor freigaben und Raspale endlich losritt. Er stand hinter Margarets Fuchs in guter Deckung. Noch. Sie merkte es.
    »Was hast du?«
    »Ein Lehrer. Ausgerechnet hier.«
    Der Präzeptor Clifford war gefährlich. Er tauchte gern und immer wieder überraschend im Konvikt auf, wo die Schüler wohnten, durchsuchte das Dormitorium, den Schlafsaal, sogar die Betten und fand manchmal Brot oder süße Rüben. Es war verboten, aus dem Refektorium Speisen mitzunehmen. Die meisten Schüler taten es trotzdem, sie hamsterten, weil sie nachts vor Hunger oft nicht schlafen konnten. Andrew hatte Margaret nie davon erzählt. Er schämte sich. Sie kannte sicher keinen Hunger, nicht in Old Barge, im Hause Morland, das über eigene Stallungen verfügte, Ziegen, Hühner, Schweine, und einen großen Garten mit Gemüse, Obstbäumen und einer Menge Beerensträucher.
    Raspale drehte sich nach ihnen um. Er machte Zeichen, dass es weiterging. Andrew blieb in seiner Deckung. Nicht gut genug. Er spähte zu dem Lehrer, der ihn plötzlich anblickte und eine Handbewegung tat, als schüttelte er etwas in seiner Hand.
    »Was ist?«, fragte Margaret, die sich nach Andrew umgewendet hatte.
    »Nichts«, log er und zog den Karren durch das Tor. Clifford hatte ihn erkannt! Andrew blickte geradeaus, bloß nicht zurück! Raspale ritt die Fishstreet nordwärts, die so bevölkert war mit Menschen, Ochsenkarren, Sänften, Eseln, Ziegen, dass er nur langsam vorankam und durch die Zähne pfeifen musste, um sich und seinem klappernden Gefolge ein wenig Platz zu schaffen.

2. K APITEL ,
    in welchem Schmerz und Angst regieren
     
     
     
    »Master Summers! Charles, mein Bester!«, rief der Lehrer und Präzeptor Clifford. »Wir halten es wie üblich. Sie kennen das ja schon…«
    Niemand in der Klasse wagte, sich zu bewegen oder hörbar Luft zu holen.
    »Sie knien genauso lange, wie ich rede. Das ist fromm. Ich habe viel zu sagen und Sie haben eine Menge auszuhalten. Der Mensch ist zäh.«
    Charles Summers trug kurze Filzhosen und kniete vor der Klasse auf einem Dutzend trockener Erbsen, die Clifford stets bei sich trug und im Bedarfsfall plötzlich aus der Tasche holte und einzeln und bedeutungsvoll klickend auf das Pult fallen ließ. Die Erbsen sprangen ein paar Mal hoch und schließlich auf den Boden, wo sie in Windeseile von den Jungen der ersten Reihe aufgesammelt wurden. Ging das zu langsam, so konnte sich einer dieser Vorderen auf eine halbe Stunde Erbsenknien einstellen, selbst wenn er mit dem aktuellen Anlass der Bestrafung nichts zu tun hatte. Clifford sah in aller Ruhe zu, wie die Schüler sprangen und grabschten, sich gegenseitig schubsten, und lachte innerlich. Jeder wusste, dass er lachte, während sein Gesicht gefroren blieb.
    »Master Summers«, sagte der Lehrer, »es ist doch allgemein die Regel, dass
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