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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest
Autoren: Jürgen Seidel
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Bärenkäfige, schüttete Futter in die Koben und füllte die Futterraufen mit Heu. Der Tierwart rumorte drüben in der Schmiede. Andrew hörte, wie er hämmerte und fluchte.
    Er wünschte sich, dass die Sonne schneller wanderte, damit die Zeit verging und Margaret käme – und dass die Arbeit hier vorüber sei und dass der Bär seine Erlösung fände. Er schuftete verbissen weiter, die Hände taten weh. Er hatte Tränen in den Augen, nicht nur vom Staub.
     
     
    D ICHT AM SÜDLICHEN T HEMSEUFER stand eine hohe Buchenhecke, die sich von den Falcon Stairs bis nach Lambeth Marsh erstreckte. Unterbrochen wurde sie von kleinen Birkenhainen, sumpfigen Mulden und allerlei niedrigem Buschwerk, in welchem man sich gut verstecken konnte und viel sah, ohne dass man selbst gesehen wurde.
    Andrew liebte diese Gegend. So ähnlich stellte er sich Gottes Himmel vor. Nicht vollkommen entrückt, sondern bewohnbar. Keine Wüsteneinsamkeit, sondern einfach nur ein wenig Ferne von dem Trubel. Die Stadt war nicht verschwunden. Der Wind trug ihren Lärm über das Wasser, den Krach der Menschen, Karren, Tiere. Was er von hier aus sehen konnte, war die Stadt als Silhouette, die Kirchturmspitzen, Mauertürme, die Dächer der Paläste, tausend Häuser und Kamine, nur das Schöne eigentlich. Der Dreck, das Schäbige und Lästige dagegen blieben ihm verborgen.
    Andrew saß auf einer alten, moosbewachsenen Mauer. Das Wägelchen, auf dem der Hund lag, stand nicht weit entfernt in einem dichten Schlehenbusch versteckt. Der Hund atmete, wer weiß, wie lange noch. Andrew hatte ihn mit Vorsicht und Geduld zum Tor hinaus und über schmale Wege bis hierher gezogen.
    Bear Garden lag jetzt hinter ihm, für ein paar Tage jedenfalls. Er hatte sich schon oft gefragt, wie Gott es eingerichtet hatte, dass in einem Herzen so viele verschiedene und widerstrebende Schläge möglich waren: die düstere, verborgene Schaulust bei den Kämpfen und zugleich das Mitleid mit den Tieren oder seine Liebe zu Margaret…
    Solche Gedanken kamen ihm nur hier, am Fluss, wenn er allein war. Dort drüben lag die laute Welt, die Stadt, die Schule, in der es kaum eine Möglichkeit gab, auch nur für einen kurzen Augenblick allein zu sein. Vor sich selbst zu stehen, wie er es nannte. »Was macht ihr, wenn ihr vor euch selber steht?«, hatte er Gregor, Charles und Search, die engen Freunde, schon so oft gefragt. Sie schauten ihn mit großen Augen an und hatten nie verstanden, was er meinte.
    Margaret dagegen hatte ihn sofort verstanden. Sie war das klügste Mädchen, das er kannte. Ihr Vater hatte sie und ihre Geschwister von klein auf unterrichtet. Sie lasen fließend Griechisch und Latein. Ihr hatte er auch seine Zweifel anvertraut, die ihn von Zeit zu Zeit befielen. Ob Gott wirklich im Himmel sei und Gläubige von Sündern unterschied. So selbstverständlich, wie ihm dies als Kind erschienen war, vor gar nicht langer Zeit, war es jetzt nicht mehr – zumal sich in der Stadt und an den Schulen seit ein paar Wochen Dinge zugetragen hatten, die Angst bereiteten.
    Insgesamt sieben Jungen etwa seines Alters waren tot aufgefunden worden.
    Erst drei, die sich vermutlich selbst vergiftet hatten. Die ganze Stadt redete darüber. Dann weitere zwei, die von einem Mauerturm gesprungen waren, und erst vor einer Woche wieder zwei, die ein Feuer gelegt und darin den Tod gefunden hatten. Bei allen waren Abschiedsbriefe gefunden worden, in welchen sie erklärten, Gott hätte sie verlassen und dass sie keinen Weg mehr sähen, in dem verbliebenen Nichts zu leben. Am New Inn flüsterte man bereits von einer Seelenpest, die immer weiter um sich greifen werde, wenn niemand mit Entschiedenheit dagegen vorgehen würde.
     
     
    A LS M ARGARET ENDLICH KAM , blitzte die Sonne schon durch das Laub der Birken.
    Sie winkte Andrew zu. Raspale folgte ihr. Er trug sein kurzes Schwert am Sattel. Andrew zweifelte, ob er es im Ernstfall tüchtig führen würde. Er war bestimmt zu alt, zu langsam, viel zu gutmütig und hatte kleine, freundliche Falten um die Augen, die jeder Feind sofort erkennen und missbrauchen würde.
    Margaret trug ihren himmelblauen Umhang, der in langen Falten zu beiden Seiten bis über ihre Schuhe hing. Die Säume waren mit kleinen goldenen, eingestickten Sternen besetzt. Es waren zweihundertdreizehn; Andrew hatte sie einmal gezählt. Jeder Stern, hatte er sich vorgestellt, sei ein Tag in seinem Leben, den er mit Margaret liebevoll verbringen dürfe. Als er es Margaret damals sagte, hatte
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