Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest
Autoren: Jürgen Seidel
Vom Netzwerk:
zu angespannt und überrascht.
    »Hör zu, ich will das alles nicht«, sagte Clifford. »Wir treffen ein Abkommen. Wir lassen uns in Frieden. Ich vergesse, dass ich dich mit Sir Thomas Morlands Tochter gesehen habe, und du vergisst, dass du mich vor der Stadt gesehen hast, mit diesem Schüler. Wie hieß er noch? McDuff. Der kleine Tim.«
    Andrew fühlte, wie ihm der Schweiß den Rücken herunterlief.
    Also wusste Clifford, dass er ihn, den Lehrer und Präzeptor, vor ein paar Wochen zusammen mit dem Schüler Tim McDuff in der Nähe von The Gully gesehen hatte: nur zwei Tage bevor man Tim als ersten Toten fand – getötet von der Seelenpest, was immer das bedeutete.
    The Gully, die Mulde, war ein abgelegenes Feuchtgebiet im Nordosten Londons. Die Felder und Gärten grenzten dort an eine lange, dichte und leicht gekrümmte Hecke aus Buchen, Eichen und Holunderbüschen. Dahinter stand ein Wald, in welchem eine weite Senke lag, The Gully, die im späten Winter, wenn der Fluss über die Ufer trat, zur Eisfläche wurde und im Sommer abends im Schatten des Waldes lag.
    Immer wieder hatte es Verbote für alle Schüler gegeben, sich dort aufzuhalten. Die Jüngeren lernten dort, wie man sich gegen die Älteren zur Wehr setzt; die älteren Schüler fanden heraus, was dran war an den Geschichten der Erwachsenen, die mit ihren Taten prahlten. Es gab seltene Pilze, Rinden, giftig-bittere Beeren und winzige Kupferstiche holländischer Herkunft, auf denen Dinge abgebildet waren, die niemand glauben mochte.
    Clifford spuckte aus. Dann neigte er sich vor und sagte leise: »Mit dem Tod von diesem Tim McDuff habe ich nichts zu tun, Whisper, das musst du mir glauben.« Und plötzlich wieder laut: »Sie glauben mir doch, Master Whisper, oder? Ich töte Sie, wenn Sie mir nicht glauben, beim Leben meiner Mutter…«
    Andrew wollte aufstehen und zur Tür gehen.
    Clifford hob die Hand.
    »Nein, mein Junge. Einen Augenblick noch…« Er wandte sich dem Pult zu, nahm ein paar Erbsen aus der Schale und sagte: »Ich verlange nichts von anderen, was ich nicht selbst erdulden kann.« Damit hockte er sich hin und legte je zwei Erbsen in kleinem Abstand zueinander auf den Boden. »Zwei für jedes Knie«, sagte er. »Weil ich das Beinkleid trage.«
    Er stützte sich nach vorne mit den Händen ab. Dann brachte er seine Knie auf die Erbsen, richtete sich auf und faltete die Hände.
    »Sehen Sie, was ich meine, Master Whisper? Pro medicina est dolor, dolorem qui necat.«
    »Ich möchte gehen, Sir, bitte!«
    »Nein, wir beten jetzt. Willst du dich sträuben, Whisper?«
    »Nein, Sir.«
    Der Lehrer kniete. Es tat ihm weh, man sah es. Die Lippen zitterten und wurden farblos. Andrew ekelte sich, ein Schauer lief ihm über den Rücken.
    »Whisper!«, jammerte Clifford. »Wir alle sind doch Menschen, Kreaturen, fleischlich und verletzlich…«
    Andrew sah mit einem Mal in seiner Phantasie, was in The Gully vielleicht vorgefallen war. Er kannte Tim McDuff nicht sonderlich, er war ein Mitschüler gewesen, mehr nicht. Aber er stellte sich vor, dass Clifford ihn vielleicht verfolgt und eingeschüchtert hatte. Tim war für seine Kränklichkeit bekannt gewesen. Es blieb ein Rätsel, was ausgerechnet er an diesem rauen Ort verloren haben mochte. Andrew phantasierte, wie Clifford ihn ergriff, zur Rede stellte, ihn irgendwie bedrängte. Dass Tim zwei Tage später tot aufgefunden worden war, hatte in der Schule eine Menge Angst und bei fast allen große Betroffenheit erzeugt. Und es schien Clifford sehr unbequem zu sein, dass Andrew ihn kurz zuvor mit Tim gesehen hatte. Der Lehrer verstärkte diesen Eindruck immer mehr, indem er, zugleich Schwäche zeigend und berechnend, auf den Erbsen kniete.
    Diese Einsicht war so rätselhaft und überraschend, dass Andrew schwindlig und sogar ein wenig übel wurde. Er fühlte sich bedroht. Er drehte sich zur Tür und öffnete den Eisenriegel. Er ignorierte Cliffords Ruf und rannte auf den leeren Flur hinaus.

3. K APITEL ,
    in welchem eine Tochter für die Liebe kämpft
     
     
     
    Als Margaret in die Küche kam, fühlte sie die Blicke ihrer Stiefmutter. »Oh ja, mein Kind, ich habe ihn gesehen.« Lady Alice schüttelte sich die Reste der Steckrübe von den Händen. Vor ihr lag ein bleicher, krautiger Hügel.
    »Unten am Flussufer… Er zog einen kleinen Wagen hinter sich und schwitzte ordentlich. Wie heißt er? Andrew Whisper?«
    »Werden Sie es dem Vater sagen, liebe Mutter?«, fragte Margaret.
    Lady Alice schüttelte den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher