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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest
Autoren: Jürgen Seidel
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sieht man bloß Schlechtes! Schwärmen im Frühjahr die Bienen aus, kann man das Brot auf dem Tisch nach links drehen, dann kehren sie nicht wieder. Dem Kuchenteig, den Margaret mit eigener Hand nach links gerührt hatte, ist es kein einziges Mal bekommen!
    Sie nahm Stufe für Stufe, presste tapfer die Lippen und horchte angestrengt. Schatten flogen umher. Je weiter man nach oben kletterte, umso kürzer wurde der Widerhall der Schritte, bis er hoch oben trocken an die Holztür schlug, durch deren Schlüsselloch das Arbeitslicht des Vaters fiel.
    Als Kind hatte sie die Treppe nicht alleine gehen wollen. Der Vater hatte sie fast jeden Morgen hinaufgetragen, damit sie sein Schreibpapier, Blatt für Blatt, mit Weihwasser beschrieb. Das Beschreiben hatte ihr Spaß gemacht, am Anfang jedenfalls. Später war es langweilig geworden, die Feder in das Wasserfass zu tauchen und Wort für Wort, Zeile für Zeile die Psalmen abzuschreiben, die man auf dem Papier nicht lesen konnte, weil das Wasser verflog und nur der Geist einzog.
    Sobald die teuren Blätter getrocknet waren, hatte der Vater sie selbst beschrieben, so schnell und emsig, dass sie nie so recht hatte nachkommen können mit ihrem Segensschreiben. Es hatte sogar Tränen gegeben, damals, aber niemals Schläge.
    Sie dachte an die Zettel, die sie früher an vielen Stellen des Hauses versteckt hatte. Es waren schmale Streifen von Thomas’ gesegnetem Papier. Die meisten hatte sie immer in einem alten Tragealtar versteckt, der unbeachtet in der Stube stand und längst schon das Eigentum von Mäusen und Spinnen geworden war.
    Der Geist in dem Papier hatte einen ganz eigenen Geruch gehabt. Sie roch und fühlte ihn, wenn sie die Streifen vorsichtig an ihrem Hals entlangrieb, an der Wange oder über den Rücken ihrer Hand. Wenn sie krank gewesen war, hatte sie das gesegnete Papier heimlich in die bittere Medizin getaucht, die man ihr zu trinken gab. Gottes Kraft erleichterte das Trinken und konnte Fieber senken.
    Als sie dreizehn Jahre alt geworden war, bekam der Vater einen königlichen Sekretär, ein schmales, blasses Männlein mit flinker Federhand, die jedes Wort aus Vaters Mund fast zeitgleich aufs Papier warf – freilich ganz ungesegnetes Papier, was sie lange nicht verstanden hatte.
    Das Echo wurde kürzer. Margaret kannte jeden Mauerstein und jede Mörtelfuge. Sie ging weiter, es war die letzte Windung der Treppe. Sie hörte Thomas’ Lehnstuhl knarren und wie die Holzbeine auf dem Boden schabten. Jetzt stand sie vor der Tür, ließ einen Atemzug verstreichen und klopfte an.
    Der Vater bat sie einzutreten. Sie öffnete.
    »Guten Morgen, lieber Vater«, sagte sie und schloss leise die schwere Tür. Der Vater saß tief über seinem Tisch gebeugt. Die Feder kratzte.
    »Komm näher, Megge, liebes Kind! Ich freue mich über deinen Besuch. Du bist nicht mehr oft hier oben. Früher hat es immer nach dir gerochen, ich mochte das sehr. Denkst du manchmal an früher zurück?«
    »Oh ja«, sagte Margaret und nahm auf einem Hocker Platz.
    Sie ordnete ihr Kleid, zog an der Schleife ihrer reich bestickten Haube.
    »Es gibt da etwas, Megge, worüber ich mit dir reden möchte. Es geht um diese Gerüchte. Deine Stiefmutter ist dumm genug, sich an dieser Tratscherei nach Kräften zu beteiligen. Sag bitte nichts! Ich weiß, wie sehr junge Menschen geneigt sind, solche Sensationen allzu ernst zu nehmen.«
    Margaret schüttelte den Kopf. »Verzeihen Sie mir bitte, Vater. Mir wurde gesagt, dass es keine Sensationen seien. Es stimmt, dass es unter Schülern Unglücke gegeben hat, dass sie sich selbst getötet haben. Sie haben großen Einfluss, Vater, Sie müssen unbedingt erreichen, dass…«
    Thomas unterbrach sie. »Und ich weiß, wer solche Dinge sagt, nämlich dieser Querkopf, ein Schüler namens Andrew Whisper. Gib es lieber zu!« Er lächelte.
    »Andrew studiert am New Inn, Vater.«
    »Weil der ehrenwerte Dean es ihm aus eigener Tasche bezahlt, Megge, nur deshalb. Sein Vater kann es sicher nicht bezahlen.«
    »Weil Andrew klug ist. Er ist ein guter Christ. Ich mag ihn sehr. Bitte, seien Sie nicht böse, dass ich dauernd widerspreche…«
    »Ich bin dir überhaupt nicht böse. Ich bin stolz, dass du dich wehrst und deinen Willen zeigst. Aber das hat nichts mit Andrew Whisper zu tun, wir reden später über ihn. Es stimmt, dass man in den vergangenen Wochen eine Anzahl Schüler tot aufgefunden hat. Niemand weiß, ob es nicht wirklich Unglücksfälle waren.«
    Er hatte plötzlich seine
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