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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann
Autoren: Nora Iuga
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Pflaster in einer Blutlache. Bis heute ist es unklar, ob es Selbstmord war oder nicht, ob sein Maß voll war oder ob sich andere darum gekümmert hatten, es zu füllen. Rolf war gerade dreißig geworden, hatte eine Frau und zwei Kinder. Er war der Beste aus der Gruppe der Deutschen. Man empfindet unweigerlich Ekel, wenn man heute ganze Armeen von Revolutionshelden sieht, die verzweifelt ihre Ellenbogen gebrauchen, um an Eigentum zu kommen, an eine Rente, ein Grundstück. Diese Hungerkünstler, denen Iliescu ununterbrochen Besuche abstattete und die nach fast einem Monat Hungerstreik noch immer ganz normale Zuckerwerte hatten, widern mich an. Der grüne Blick weicht ihr aus. Anna weiß nicht, ob er ihr zustimmt oder nicht. Vielleicht ist er selbst ein Held, man weiß ja nicht, sie verdreifachen sich schließlich jedes Jahr. Mich schaudert, wenn ich an die wunderbaren jungen Leute denke, die alle geopfert wurden. Sie hatten keine Zeit mehr, aus der Revolution Profit zu ziehen. Ihnen gab der Staat nur noch ein Steinkreuz und ein kostenloses Grab. Und wenn du dir diese ganze Wohllebe ansiehst, die da im Parlament hockt, dann wird einem angst und bange vor so viel Habgier, vor so viel Zynismus. Glaubst du, wir werden jemals erfahren, was hinter dieser Revolution steckt, hinter all diesen lang im Voraus geplanten Verbrechen? Sie erst zur Hilfe zu rufen, um sie dann zu erschießen. So geschah es in Otopeni, in der Militärakademie, im Fernsehgebäude. Und wenn ich diese graue Eminenz, diesen Menschen so düster lächeln sehe vor lauter Galle, die sich in ihm angesammelt hat, und wie der Machtinstinkt ihmden Verstand vernebelt und ihn zu jedem Verbrechen bereit sein lässt. Siehst du nicht all diese Fanatiker – Fanatiker und Hysteriker, die ständig in den Massenmedien das Volk gegen die Ungarn aufwiegeln, und zwar im Namen eines »natürlichen und notwendigen« Nationalismus, wie es ihnen beliebt sich zu rechtfertigen. Wohin wollen sie uns eigentlich haben, dass Vadim Tudor Präsident wird und es uns bald nicht mehr gibt, dass wir so etwas wie Europas Bangladesch werden, dass wir uns vernichten, zufrieden und stolz auf die Freiheit, uns selbst zu töten. Dieses Volk sägt an dem Ast, auf dem es sitzt, dauernd hat es etwas gegen Ungarn, Zigeuner, Behinderte, Homosexuelle. Vielleicht werden wir dann am Sankt Nimmerleinstag doch noch zu Europa gehören. Dracula schläft eingerollt auf dem Sofa, sie hat sich die Pfoten über die Augen gelegt, weil das Licht sie stört. Man hört ihren Atem, wie bei einem Raucher. Sie ist eben auch schon alt, neun Jahre. Jetzt fällt der grüne Blick mit seinem ganzen Liebreiz auf die Katze. Er scheint verzaubert vom Spiel der weißen und schwarzen Flecken, unter denen hin und wieder ihre Muskeln zucken. Der Mann zieht aus seiner hinteren Hosentasche Notizblock und Kugelschreiber, und während er die Augen nicht von Dracula lässt, beginnt er, sie zu zeichnen. Das ist auch eine Methode, nur das zu hören, was man hören will. Da sie nicht weiß, auf welcher Seite er steht, denkt sie, es wäre besser, ihn etwas zu verwirren. Hast du auch die Erschießung Ceausescus am Heiligen Abend gesehen? Welches andere Volk erweist sich heute, im Jahr zweitausend, noch als so barbarisch? Das führt doch nur zu Gegenreaktionen. Wer ihm gestern noch den Tod an den Hals gewünscht hat, wird ihn heute bemitleiden. Anna istgespannt, wie er darauf reagiert, aber der grüne Blick springt wie ein Akrobat über das Papier, von der Zeichnung zur Katze und zurück zur Zeichnung; ich bin so aufgeregt, mache mir nichts mehr daraus, ob er mich ansieht oder nicht, bin ich es ja gewohnt, allein in der Wohnung zu sein, es tut mir sogar gut, besonders jetzt, da ich gestrichen und neue Bücherregale gekauft habe, die Wohnung sieht größer aus, das warme Gelb des Teppichbodens und der Wände hat eine einladende Sinnlichkeit. Dann denke ich an ihn. Fühle diese Woge, die mich von unten umspült und so schändlich aufsteigt in mir, bis sie mein Hirn verschlingt. Ich stelle mir vor, dass er mich will, ich stelle mir vor, er findet mich schön, er wäre so verliebt in mich, dass er mein Alter, meine Krankheit und mein scheußliches Aussehen vergisst. Umsonst sagt mir der nimmermüde Eulenspiegel in meinem Kopf, dieser scharfsichtige Sadist, meine Selbsttäuschung sei die Nachbarin der Verrücktheit, ich kann auf diesen Genuss nicht verzichten, mich jung zu sehen, wenn niemand zugegen ist. Ich habe es immer gemocht, in den Spiegel
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