Die schweigenden Kanäle
schweigenden Kanälen.
Ilse Wagner stand allein in der Bahnhofshalle, mit hundert Mark in der Tasche. Ein hilfloses Mädchen in einer zauberhaften Stadt.
Daß sie mit dem Sänger Rudolf Cramer zusammentraf, war einer jener Zufälle, die zum Schicksal wurden. Aber davon ahnte damals noch niemand etwas –
In der palmengeschmückten, riesigen Halle des Hotels ›Excelsior‹ stürzten drei livrierte Pagen auf Ilse Wagner und Rudolf Cramer und nahmen ihnen die Koffer und Taschen ab.
Während Cramer an der Rezeption mit dem Geschäftsführer verhandelte und ein Zimmer mit dem Blick auf den Canale Grande bestellte, sah sich Ilse zaghaft um. Der plötzliche Eintritt in das Vorzimmer der ›Großen Welt‹ verwirrte sie. Die Sesselgruppen, mit Damast bezogen, die geschliffenen Marmorböden und die Marmorsäulen, die traumhaft schönen Abendkleider der Damen und der Blick in die im Hintergrund der Halle liegende Bar mit goldgerahmten alten venezianischen Spiegeln und glitzernden Muranoglas-Kronleuchtern, dieser Reichtum auf engstem Raum, das Feuer großkarätiger Brillanten an weißen Hälsen und schlanken Fingern und Handgelenken, war eine Wirklichkeit, die wie ein bunter Film vor ihren Augen vorbeilief. Als Cramer sie an den Arm faßte, zuckte sie zusammen, als habe sie offenen Auges geträumt … aber das Bild blieb, die Musik, der Glanz, das greifbare Märchen.
»Kommen Sie. Ich habe für Sie noch ein schönes Zimmer ergaunert. In der Saison!«
Ilse Wagner blieb stehen, als Cramer sie zum Lift ziehen wollte. »Bitte, gehen wir in ein anderes Hotel«, sagte sie leise. »Hier gehöre ich nicht hin. Hier falle ich auf –«
»Das mag sein!« Cramer gab einem Boy einen Wink. Die Koffer wurden weggetragen. »Sie werden auffallen, weil Sie die Schönste sind –«
»Jetzt reden Sie wieder Dummheiten!«
»Sehen Sie sich doch genau um, bitte.« Rudolf Cramer machte eine weite Handbewegung. »Was Sie hier bewundern, sind auch nur Menschen. Weiter nichts. Sie lagen wie Sie in nassen Windeln und werden wie Sie in einem engen Holzkasten liegen, zwei Meter Erde über sich. Was dazwischen liegt, das sogenannte ›Leben‹, sollte Sie nicht faszinieren! Diese Menschen hier haben das große Glück, ihren Neigungen leben zu können. Teils aus eigener Kraft, teils, weil sie reiche Väter oder Mütter hatten. Dieser ganze Zauber ist mit einer Hand zu greifen … ein Abendkleid, ein bißchen Schminke und Puder, ein selbstbewußtes Lächeln auf den rotgeschminkten Lippen, ein hoheitsvoller Gang, eine zur Schau getragene Unnahbarkeit, die anreizend wirkt … und auch Sie, Ilse Wagner aus Berlin-Dahlem, werden von diesen Weltenbummlern nicht zu unterscheiden sein.«
Ilse Wagner lächelte schwach. »Das alte Spiel von ›My fair Lady‹, dem Aschenputtel im goldenen Kleid.«
»Sie werden in einer Stunde anders sprechen. Sie kennen noch nicht die Zauberformel Venedigs: Alles in meinen Mauern ist Glück! Von Ihrem Zimmer aus werden Sie es sehen – Sie haben Nr. 81.«
Mit einem leise surrenden Lift fuhren sie nach oben. Ein Boy riß die Tür auf und begleitete sie bis zur Zimmertür. Cramer schloß auf und ließ Ilse Wagner zuerst eintreten. Es war ein großes, mit weißen, goldverzierten Möbeln eingerichtetes Zimmer. Über dem Bett schwebte ein Baldachin aus Tüll und Seide. Eine große Flügeltür führte auf einen Balkon.
»Sehen Sie erst, ehe Sie sprechen …«, sagte Cramer leise in ihr Ohr. Sie nickte, preßte die Hände auf das Herz und trat langsam hinaus auf den Balkon.
Breit und im Widerschein tausender Lichter schimmernd lag der Canale di San Marco vor ihr. Rechts mündete der Canale Grande, und dort, wo die beiden großen Wasserstraßen verschmolzen, auf der Punta della Salute, glitzerten schwach die Kuppeltürme von Santa Maria della Salute, der Märchenkirche von Venedig. Weit in der Ferne, eingehüllt in einen Lichtnebel, lag die Laguna viva mit dem berühmten Lido und dem Litorale di Malamocco. Die Inselkirche San Clemente hob sich schwarz gegen den fahlen Himmel ab. Nur wenige wußten, daß sich hinter ihren prächtigen Mauern das Grauen verbarg … die Irrenanstalt des Paradieses Venedig.
»Herrlich …«, flüsterte Ilse Wagner und lehnte sich gegen das schmiedeeiserne Gitter des Balkons. »Wunderschön … Es ist ein Märchen … Man möchte träumen und nie mehr erwachen –« Da sie keine Antwort erhielt, drehte sie sich um.
Sie war allein. Unbemerkt war Rudolf Cramer gegangen.
Nach dem Auspacken badete
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