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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen
Autoren: Uwe Tellkamp
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einer Schulspeisung) und Jeans aus dem Westen, hinter sich eine Schleppe von wiederaufzweigenden Gesprächen, lässig und nicht einmal für einen schnippischen roten Heller schuldbewußt, wie mir schien, in die 59. Polytechnische Oberschule einzogen.
    … Straßen. Gehe ich den Rißweg, die so einladende konkave Krümmung seines Rückens, hinab, nehme ich wie vor den Jahrzehnten des Wagnisses, das Erwachsensein heißt, die fluiden Bilder aus dem Eckhaus Rißweg / Steglichstraße mit, dessen Bug rund geschwungen ist wie das Maul eines Welses und in dem vor der Dekorationswerkstatt Leuter mit ihrem anziehungskräftig in silbergrau-wetterfesten Stoff gekleideten VW Käfer ein Orthopädieschuhmachermeister residierte (ich erinnere mich genau an diesen Begriff, weil ich seine 28 Buchstaben auf dem Schaufenster immer wieder zählte): Schusterleim, Brodem aus den nassen Mänteln der Schlangestehenden, der gummibeschlagene Holztresen, an dem die Meistersgattin die Papierabschnitte für die Abholung ausfüllte und das Pendant auf die Schuhsohlen klebte, eine brüsk rangierte Klapplade, hinter der die Treter von uns Kindern, die Halbschuhe der Väter, die »Salamander« der Honoratioren, die schiefgelaufenen Pumps der unentwegt nach Einkäufen hastenden Mütter des Viertels einträchtig, wie sonst nicht im Leben, auf den Regalen einer wissenden, an Kostüm- und Beinhäusern interessierten Macht beieinanderstanden. Auf der Oskar-Pletsch-Straße, die mit der brauchbaren, elefantischen Biegung einer Schwimmbadrutsche abfällt, habe ich den Eindruck, daß sich zwei Reiche an ihrer nachlässig bewachten Grenze treffen: das eine wird vom Lächeln des Mädchens mit dem Perlenohrring bewohnt, das Vermeer gemalt hat, vom Schmelz ihrer halbgeöffneten Lippen und der feenhaften Musik, die das Perlenweiß und Blau mit dem Zitronengelb eines Turbans befacht; das andere säumen rostige, von den dunklen Lungen der Blutbuchen abgeatmete Boten – vor dem »Fuchsbau« an der Berglehne, gegenüber im Garten an der Sonnenleite, Hietzigstraße 4 und 1, am Eingang der Collenbuschstraße 2 und, als Bronzeriesen, im Park der Schillerstraße 12 stehen diese wie aus der Romanik auf glimmenden Zeitachsen herbeigebannten Bäume. Während ich über die Collenbuschstraße mit ihrervon den Sonnabendpantoffeln neugieriger Kulturbürger geschmirgelten, fedrigen Heimatkunde gehe, sehe ich, die Perspektive begütert von der aus Vatikan-Sommersitzen abgesplitterten Villa Thorwald, bereits die Schevenstraße vor mir, die auf mich auch heute, wenn Schlaglöcher unverblümter und Fassadenrisse anrührender werden, wie eine über die Elbe bugsierte Kanzel wirkt, von der, mit bestem Blick und lässig in die Hosentaschen gesteckten Händen, der Adel der Stadt unverändert wie vor 89 auf sein Werk und seinen Besitz blickt.
    … eine leere Wohnung, Umzugskisten (damals noch aus Holz), Möbel unter Tüchern, kerzenweiß, skulpturhaft; Tapeten schälen sich in Placken ab, riechen nach feuchtem Gips. An den Fenstern ranken Eishecken. Draußen, in den Loschwitzer Gärten, zögern die Bäume wie Korallen. Ein Klavier spielt irgendwo ein erkältetes Nocturne. Ich konnte atmen, ich begann zu schwimmen mit erkundungsmunteren Lebensschlägen, einem noch ungläubigen Körper in einem Aquarium ankerlichtender Dinge. Immerhin war 1978 der erste deutsche Kosmonaut (Astronaut sagte niemand im Osten) ins Weltall gestartet, Sigmund Jähn aus Morgenröthe-Rautenkranz; er hatte der fähnchenschwingenden Menge entlang der Ernst-Thälmann-Straße zugewinkt. Mein stilles Atlantis – ich wurde Luftgänger, sah die Wanderschaft des Eises, die Haut aus Täuschungen, die im Frost aufplatzte. Ich schwebe. In den Zimmern des Winters 78 / 79 wölkt Rauch vor den Mündern, die Behausungen gleichen den Tuberkulosekavernen auf den Durchleuchtungsschirmen in den Wagen mit der Aufschrift »Volksröntgen«, Dresden ist ausgehöhlt, der Fluß lagert Schicht um Schicht seines Totenwachses um die Stuben. Ein Witz riet: Fotonegative zum Entwickeln einfach in die Elbe tauchen, da ist genug Chemie drin! Fische trieben bauchoben, wenn das Arzneimittelwerk oder die Zellstoffabrik Heidenau Abwässer »einleitete«. An der Schneekugel, deren gläsernes Gewölbe nachklang, wenn ein Diskus im Heinz-Steyer-Stadion übers Ziel flog, rüttelten die Winde, im Gestöber blieben Straßenbahnen liegen und mußten mit Pflügen freigebrochen werden. Die roten Sterne auf den Betrieben leuchteten, wenn der Plan
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