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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen
Autoren: Uwe Tellkamp
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erfüllt war. Das Wachtangow-Theater spielte, die Donkosaken stimmten »Wetschernij swon« an; dieApfelsinenschlangen vor den Geschäften des Kombinats OGS (Obst, Gemüse, Speisekartoffeln) wuchsen noch immer und wie je. Im Fernsehen lief »Gewußt wie – spart Energie«. Das Radio war ein lauschendes Tier. Driftete es durch dunkelblaue Zonen, ein submariner Offizier des Ohrs? Ein Bathyscaph, der »Fidelio« hieß, Tasten besaß, die »Hörspiel«, »Orchester«, »Jazz« versprachen; das Signal des Kremls flackerte über die schlafende Stadt, Aufforderung zum Wachstum der Rosen. Grün phosphoreszierten die Skalen der Rundfunkstationen, Hilversum, die geheimnisvolle Abkürzung Sottens., Ziele unserer Traumreisen durch das Eis, die Nacht. Die Lampen der Kronleuchter brannten, beleuchteten das Unwichtige, damit das Wichtige im Schatten und der notwendigen Ruhe blieb.
3
    14. März 2010, ein Tag mit bedecktem, weichem Licht, wie es in geerbten Löffeln vorkommt; es gibt Tagesauskunft, zugleich verbirgt es etwas, wovon ich nichts weiß. Wenige Menschen sind auf den Straßen. Das Viertel schläft, den beklommenen, gliedermüden Schlaf verregneter Sonntagnachmittage. Hin und wieder meldet eine Elster ihr Mißvergnügen, am Ende der Stechgrundstraße zerstreuen sich Waldläufer. Die Sächsische Wach- und Schließgesellschaft begeht das Areal des ehemaligen Sanatoriums; auf der Grundstücksstraße, die von Baumkronen überwölbt ist und sich im Gestrüpp verliert, steht ein Wohnwagen, ein blauer Schneeschieber davor, ein Besen, eine gelbe Plastente. Dahinter ein massiges Gebäude mit augenhaft geschwungenem Fenster, das frühere Herrenbad, geduckt von einem Ziegelturm (das Wasserreservoir), kyrillische Buchstaben auf den Putzresten: Krasnodar, Sotschi, 88-90; die unsichtbaren, ungehörten Geschichten, die einen Treibköder hinterlassen haben: Vorübergehender, sieh! Zaungast, lausche! Und ich bewege mich nicht; es ist die Stadt, die leise bebt und sich davonzustehlen versucht, die plötzlich Umrisse bekommt und Fäden kappt, die von ihrem Körper in einen anderen Körper liefen – Verletzungs-Rand,angefrischt vom Schnittwerkzeug der Erinnerung, das unsere Welt erst sichtbar (und zu einer Insel) macht. Die Zweite Sonne scheint, die der Landschaften, in denen wir unsere Doppelgänger sehen, die das vergessene Taschenmesser am Beckenrand des Bachmannbades in Bühlau beleuchtet, wo heute Eichelhäher fliegen und ein Waldseilpark auf Kinder wartet. Zweite Sonne, die den Alberthafen mit den Geräuschen der Kohlenträger füllt, jener Männer mit schwarzweißen, glänzenden Oberkörpern, die die hitzeknisternden Rupfensäcke von den Prähmen wuchten und mit einer Schulterdrehung auf die unter den Zentnern schwankenden Framo-Lastwagen loswerden; Zweite Sonne, die mir den Weg dieser Kohlensäcke (Auspuffgekrächz und Motorenasthma den Mordgrund hinan) ins Lazarett zeigt, wo die Kalte Klawdia den Fahrern das Tor ins Innere von Dresden öffnet. Auf Meinholds Landkarten, aus dem Antiquariat P. Dienemann Nachf. oder Adler in Blasewitz gefischt, gab es unvermessene Zonen, in die wir die Sonden unserer Neugier bohrten, dankbar für jeden Hinweis, der geeignet war, eine Kapillare Wissen in das Weiß hineinzutreiben, um seine Kompaktheit aufzubrechen, es in begehbarere Stücke zu zerlegen, der Härte seiner Fremd- einige Grade Vertrautheit abzuschmeicheln.
    … Evana Mieder: Die Teufelsbrüderbande war den »Mosaik«-Heften von Hannes Hegen entstiegen, deren Weltraumserie noch in so manchen Gemälden der Leipziger Baumwollspinnerei spukt, und drückte sich, neugegründet auf dem Dachboden der Stadtteil-Kohlenhandlung über einer Versammlung schimmernder Brikettwaagen, am Schaufenster der Miederwarenhandlung die Nasen platt, bis uns Inhaberin Ruth Vogel, nach der das Geschäft Busen-Vogel genannt wurde, hineinbat und erste Auskünfte über Körbchengrößen, stoffliche und sonstige Beschaffenheit dieser den Frauen vorbehaltenen Kleidungsstücke erteilte mit dem Ernst der Siegesgewissen und der aufrichtigen Humoristen.
    Die Straßen der Kindheit wiederzusehen, heißt, das Exil ohne Wiederkehr anzuerkennen, den Abschied, der uns für immer aus den endlos scheinenden Sommern der Abenteuer entfernt. Jene Ungeheuerlichkeit und Niedertracht der Zeit, die darin liegt, daß ich die Angestellten desFriseursalons Harand nicht erreichen kann, obwohl ich sie wie leibhaftig und berührbar agieren sehe, als wäre ich selbst in diesem Moment der ängstlich
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