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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Trachauer »Goldenen Lamm« in die Wohnzimmer, die von ihren Mietern mitBurattino, Pinocchio, den Prager Figuren Spejbl und Hurvínek, der Kunst Sergej Obraszows geteilt wurden.
    Die schönste Stunde brach an, wenn ich, im Besitz unseres Dachbodenschlüssels, so daß mich weder mein Vater noch mein Bruder würden stören können, die Abendgeräusche des Hauses zu hören bekam, Schritte im Treppenschacht, Kohlenschütten, deren Inhalt in die Ofenöffnungen aller drei Etagen gekippt wurde und auf den Rosten mit dem mir unvergeßlichen, kreidigen Gepolter von »Rekord«-Briketts aufschlug, das Murren der Umwälzpumpe im Zimmerchen unter der Bodentreppe, das sie ganz ausfüllte, und wo sie die Aufgabe eines wenn auch lahmenden Herzens übernahm, indem sie die Heizungswasser durch die Arterien und Venen des Hauses schob. Dann konnte ich fliegen, denn ich hielt eines der farbig bemalten Blechschilder in der Hand, die ich in einem Rucksack entdeckt hatte, Reklamen für Lufthansarouten über Gotenhafen, Göteborg via Kopenhagen nach London; für die Transatlantiklinien der Hapag und des Norddeutschen Lloyd, der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschiffahrts-Gesellschaft – die albatrosumflogene, weißblaue Atlantikwellen wie Buchseiten trennende Silhouette der »Cap Polonio«, die Namen Bremerhaven und La Plata, dschungelgrüne Palmen, ein sturmerprobter, den Freibeutern der sieben Meere ebenbürtiger Kapitän: das genügte, um meinen Atem zu kapern. Und so bald wurde er mir nicht zurückerstattet. Die verwinkelte Dünung des Dachbodens mit ihren Buhnen aus Weinballons, gußeisernen Heizkörpern, deren Rohre hilflos wie mißbrauchte Prothesen in die Luft griffen, den Wellenkämmen aus eingemotteten Kleidern, toten Wespen als Sarkophage dienenden Tontöpfen, Strömungen aus den Dachkammern der Nachbarn spülte mir eine Kiste in die Hände, in der Fotoalben neben mürbe gewordenen Regenschirmen, Damenstrümpfen mit Laufmaschen und Zigarettenetuis steckten, und mehr als der Feigenduft, die Farben des Orients, die der Kiste entstiegen, verhießen die Namen: warte; wir müssen langsam beginnen, und alles muß in Frage stehen. Unter dem leicht erhabenen, schlickgrünen Buchstaben-Relief »Hänsom« standen die Worte »Tonfilmbilderalbum« und »Jasmatzi / Dresden«, darunter das mir unbekannte sächsische Wappen (im Schulunterricht kam es nicht vor); ich schlug, gestreift vom Hauch aus einer Jahrhundertgruft, die Kladden so beklommen und ehrfürchtig auf, als wären es Reliquien, und sah, auf geduldig eingeklebten Bildchen, die in ihren vorgedruckten Rahmen wie in einer Papierstube hingen, Ufa-Stars der Aufmerksamkeit eines Fremden entgegenlächeln, der sich über die mit Pergamin voneinander gesonderten, wie aus einem arktischen Ägypten freigelegten Papyri beugte. Jasmatzi, Yramos, Kosmos, Union, Patras, Macedonia: Untergegangene Namen, an denen eine Geschichte haftete, für die mir, wenn ich aus der Schule kam und über die Kurparkstraße nach Hause ging, der in Bleiglas gefaßte Bilderbogen »Der Weg der Tabakkiste« im Treppenhaus der Villa Zietz, die dem Besitzer der Yenidze-Zigarettenmoschee gehört hatte, als Beispiel diente; es waren die Namen, die in den Augen einen Sprung hinterließen, dienstbar dem Poetischen Sehen, in dem man Trauer und Freude, Dunkel und Licht, Vergangenheit und Gegenwart zugleich wahrnimmt.
2
    Um in die Sowjetunion zu gelangen, mußte ich, vor dreißig Jahren, nur einige hundert Meter zu Fuß gehen. Jenseits der Bautzner Straße befand sich ein Lazarett der Roten Armee, das frühere Lahmannsche Sanatorium, in dem Kafka und Thomas Mann zu Gast gewesen waren; Rilke hatte hier gedichtet, und die rumänische Königin war unruhig auf und ab gegangen. Für mich war das Lazarett das geheime Herz von Dresden – mit hohen Zäunen abgeschottet, von Militärposten bewacht. Über den Mordgrund ragte ein Förderband, das Asche in die Schlucht mahlte mit einem brummenden, vom Gepolter der Loren begleiteten Geräusch. Nachts schlichen wir uns an, abenteuerlustige Jungs, und beobachteten die Kalte Klawdia, die das Lazarett beheizte und, was wir noch nicht wußten, die Häuser des Viertels mit Strom versorgte. Eines der Thermometer stach wie der Zahn eines Narwals aus dem Heizhaus, ein Splitter Märchen im Hoheitsgebiet der Stadt. Wir wußten kaumetwas von der Kalten Klawdia, weder, woher sie kam und aus welchen Gründen es sie an diesen Ort verschlagen hatte, noch, ob sie tatsächlich »zu den Russen« gehörte,
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