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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen
Autoren: Uwe Tellkamp
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wie wir unterschiedlos alle nationalisierten, die Uniformen mit »CA«-Schulterstücken trugen. Manchmal sahen wir sie, wie sie nachts unter einer Hoflaterne rauchte, der Glutpunkt hell- und dunkelrot im Atmen, in Gebirgen grusiger, den Laternenschein matt reflektierender Kohle. Nach einer Weile begann Klawdia zu grummeln, und wenn sich die Geräusche aus dem Heizhaus veränderten, hob sie ihren Kopf und lauschte, rückte, mit einer eher belustigten als wütenden Gebärde, wie mir im Versteck auf einer der Mordgrundbuchen schien, in dieser nahen, doch unbetretbaren Welt ihre Schapka zurecht, wurde von Lachen geschüttelt, stieß eine der Schubkarren beiseite, die vor den Kohlehaufen standen, und begann zu heulen: »Klaw-dija! Menja sowut Klaw-di-ja …!« Ich heiße Klawdia; dann schrie sie, die Fäustlinge mit der Zigarette vor dem Mund: »Gidje? Gidje?« – Wo? Wo? – in das eintönige Geräusch des ascheschleppenden Förderbands. An den Dachtraufen des Lazaretts hingen Eislanzen, und Klawdia beendete ihre Rauchpause, indem sie einen Armvoll dieser Gebilde pflückte und vor ihrer Brust stapelte wie milchiges Brennholz. »Nje kuritch«, nicht rauchen, stand auf den Toren.
    … Straßen. Über dem Hainweg, einer von der Kurparkstraße abzweigenden Sackgasse, liegen im Frühling der Schimmer des Flieders und abends, wenn die pfeilenden Rufe der Schwalben die Gärten mit Reisefreude füllen, Schauer seines lilafarbenen, in der Jugend beheimateten Dufts. Ich habe diesen unscheinbaren Weg mit seinen Häusern im Schweizerstil (eins beherbergte ein Bordell der Staatssicherheit), der Tafel mit dem selbstbewußten »Aus eigner Kraft«, der indianisch abgemagerten, gläsern zarten Villa Wald-Eck am Beginn, den Pflanzen, von denen die Fenster und Veranden nur geliehen zu sein scheinen, immer gern gehabt, und noch heute biege ich oft, wenn ich mit meinem Sohn auf den Sportplatz der 59. Schule gehe, für eine Weile ein, um die aus Blättergemurmel und Regattastimmung gemischte Leichtigkeit zu atmen. Die Bautzner Straße, dicht von Autos berieben, ist aufgeladen wie ein galvanischer Stab und zieht die auf dem Spaziergang abgeblätterteHektik rasch wieder zusammen; die Häuser – das noch den Brombeeren gehörende Anwesen des Kammersängers Schellenberg, das einem Tudor-England aus der Tasche gerutschte Haus Silvana, die ehemalige Konditorei Binneberg, in der sich inzwischen das Feinschmeckerlokal »bean & beluga« befindet – wirken wie auf eine Kliffkante exiliert, an der das maritime Element nicht seine unpathetisch-sommersprossige Ostseeversion ausspielt (sie schleust die Häuserlinie des Rißwegs in Tatis »Ferien des Monsieur Hulot«), sondern die Schroffheit der Nachsaison, die Ernst macht und die Fundamente angreift.

Taschenbergpalais 1980

… Chopinstraße: Ich weiß nicht, weshalb dieser Name an das Seitentürchen klopft, das abseits von der Hauptbahn der Eindrücke und Erfahrungen, die durch das Orbit des Auges zieht, seinen von Einsprüchen vermauerten Platz behauptet; liegt es am Buchstaben C, mit dem der Name dieser Straße am Weißen Adler beginnt (ein Mittelmeer-Buchstabe, seine Farbe hat den Elfenbeinton einer mit Können genährten, nie von den Grausamkeiten dilettierender Finger beleidigten Bechsteinflügel-Tastatur), oder liegt es nicht doch daran, daß in der Chopinstraße meine erste Liebe wohnte. Obwohl ich die Schwarmgeister zur Besinnung mahne und im Flachflug über der Realität zu halten versuche, indem ich mich an das Kinderheim in der Chopinstraße erinnere, bricht der Schock, wenn sie, die ich Quichotte nannte, inmitten ihrer Freundinnen den Schulhof betrat und sich ringsum, als wären sie Magnetwesen mit dem abstoßenden Pol hin zu ihren Mitlebenden, sofort Platz bildete, eine Zone des Verstummens im Schülergequassel, eine Aura der Unerreichbarkeit, bricht dieser Moment, der immense und abrupte Bann, den die Frauen (sie waren keine »Mädchen«) erzeugten, mit der Kraft einer Staudammsprengung wieder auf, jenes Bersten einer bis dahin unbekannt gebliebenen Verkrustung, die nur der Schulsport oder eine der üblichen Mutproben ahnungsweise bedrängt hatte; und plötzlich verlor man die Fassung, hatte mit der sprudelnden Freiheit umzugehen, in der man erst nach einigen betäubten Sekunden ebenso panisch wie nutzlos um irgendeinen Halt kämpfte, während die Phalanx aus schimmernder Weiblichkeit, darin »sie« mit unbeteiligtem Blick, in sogenannten Essengeldturnschuhen (sie kosteten den Betrag
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