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Die Schrift an der Wand

Die Schrift an der Wand

Titel: Die Schrift an der Wand
Autoren: Gunnar Staalesen
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sehen, und die Straßenbeleuchtung war selbst
am Tag nicht abgeschaltet.
    Auch die Beerdigung war keine besondere Show gewesen.
Niemand hatte auf dem Sarg von Lasse Wiik getanzt, auch wenn
ich mir in den finstersten Stunden eines früheren Daseins
durchaus so etwas erträumt hätte. Aber es waren etwas zu viele
Jahre vergangen, seit Beate und ich uns getrennt hatten, als daß
der Tod ihres neuen Mannes jetzt einen tiefer greifenden
Eindruck auf mich gemacht hätte. So neu war er denn doch
nicht. Sie waren seit 1975 verheiratet gewesen, und sie hatte es
mit ihm deutlich länger ausgehalten als mit mir.
    Nach der Beisetzung stand ich ganz hinten in der Kondolenzschlange. Als ich sie formell umarmt und ein Bedauern
gemurmelt hatte, standen wir einen Augenblick da, und unsere
Blicke glitten auf dem Gesicht des anderen aus. »Das ging
schnell«, sagte ich. »Er war fast ein Jahr krank«, sagte sie.
    Ihr Gesicht war dasselbe, aber vielleicht ein wenig spitzer um
die Kinnpartie als früher, wie bei einer Karikatur. »Was hast du
jetzt vor?« fragte ich. Ihr Blick glitt an mir vorbei, zum Store
Lungegårdsvann hinunter und an der ungepflegten Zahnreihe
von Hochhäusern in Nedre Nygård entlang. Das große Autobahnkreuz, 1989 fertiggestellt, erinnerte an ein Instrument, das
ein Zahnarzt dort vergessen hatte. »Tja, ich weiß nicht –
vielleicht gehe ich wieder nach Hause zurück.«
    »Nach Hause? Du meinst nach Stavanger?«
»Ja –«
Ich schlenderte zu Thomas und Mari hinüber, die am Rande
    einer Gruppe von Leuten standen, die ich nicht kannte. »Wann
fahrt ihr zurück?« fragte ich. »Wir nehmen heute abend den
Nachtzug. Ich habe morgen ein Seminar, an dem ich teilnehmen
muß«, sagte Thomas. »Habt ihr Zeit, kurz vorbeizukommen,
bevor ihr fahrt?«
    Sein Blick wanderte zu seiner Freundin hinunter. »Doch, das
wäre nett.«
»Und was macht ihr jetzt?«
»Ich denke, es gibt ein kleines Treffen zu Hause, für die
nächsten Angehörigen …«
Februar ist ein spärlicher Monat, lichtarm und lustleer. Lasse
Wiik hatte den rechten Ausgangshafen gewählt. Der Winter lag
noch immer wie eine Haut über dem Fjord. Der Frühling war
nur eine ferne Androhung von Leben, an der er als Herzpatient
sowieso nicht mehr richtig teilhaben konnte. Einen Augenblick
lang beneidete ich ihn fast.
Dann hatte ich mich brav von dem schwarzgekleideten Trupp
verabschiedet und war zum Mølledalsvei hinuntergewandert, wo
das Auto auf mich wartete, genauso kalt und frostig wie der
Februar. Ich fuhr in die Stadt, parkte gleich bei meiner Wohnung um die Ecke und ging zu Fuß zum Büro hinunter. Wenn
ich das Auto brauchte, wäre ich in nur zehn Minuten wieder
oben, und so wie sich der Verkehr in der Stadt die letzten Jahre
entwickelt hatte, war es auf jeden Fall der geeignetste Ausgangspunkt für eine Autofahrt.
Unterwegs kaufte ich ein paar Zeitungen, die ich vor Schreck
fast fallen ließ, als ich in meinem Wartezimmer jemanden sitzen
sah. Meistens wurde ich angerufen, und die die kamen, während
ich nicht da war, riskierten es selten, zu warten. Also mußte es
sich wohl um etwas Dringendes handeln.
Sie legte die Wochenzeitschrift von 1974 schnell weg und
stand auf, als ich hereinkam. Mit einem Blick auf den Lesestoff
fiel mir auf, daß ich mir überlegen sollte, damit einmal zum
nächsten Antiquariat zu gehen. Zumindest würde der Ertrag
vielleicht den Kauf von einigen Exemplaren aus den 90er Jahren
ermöglichen.
»Ja bitte? Ich bin Veum«, stellte ich mich vor. »Warten Sie auf
mich?«
»Ja, ich hatte gehofft, daß Sie kommen würden.« Sie sah mich
forschend, aber mit deutlicher Distanz im Blick an. »Ich bin –
Frau Skagestøl.«
Wir gaben einander die Hand, ich schloß die Tür zu meinem
Büro auf und ließ sie eintreten. Ihr Parfüm erinnerte mich
unwillkürlich an Zitronen. Sie hatte einen Duft von herbstlicher
Atmosphäre gewählt: eine Landschaft in der Ferne, bei klarem
Wetter, in der man aber nie Spazierengehen würde.
Im Büro sah sie sich rasch um. Ich wies auf den Klientensessel
und fragte, ob ich Wasser für eine Tasse Kaffee aufsetzen solle.
»Nein danke, das ist nicht – notwendig.«
Ich ging um den Schreibtisch herum, setzte mich, öffnete die
oberste Schublade und holte einen Notizblock und etwas zu
schreiben heraus. Ein oder zwei Sekunden lang saßen wir nur da
und betrachteten einander wie zwei politische Kontrahenten in
einem Rededuell im Fernsehen, eine halbe Minute vor Beginn
der
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