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Die Schrift an der Wand

Die Schrift an der Wand

Titel: Die Schrift an der Wand
Autoren: Gunnar Staalesen
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Samstagsstimme über ein Buch, das sie niemals
lesen würden und das ihnen wohl auch völlig egal war.
»Er will jetzt mit euch sprechen«, sagte ich, und sie standen
mechanisch auf, als hätten sie im Sprechzimmer eines Frauenarztes gesessen.
Als sie an mir vorbeiging, zischte Åsa: »Es ist alles nur Sigruns Schuld!«
Ich blieb stehen und starrte sie an. »Sigrun Søvik? Die Pfadfindergruppenleiterin? Was meinst du damit? Weil sie euch
überrascht hat?«
»Das wissen Sie?«
»Ja, sie hat mir erzählt, daß sie euch ertappt hat, als ihr … Na
ja …«
»Ertappt hat! Wir haben nichts Böses getan! Wir sind nicht so
drauf. Wir wollten nur … wir haben einander nur untersucht,
gefühlt, wie es war, wenn jemand anders – wo es guttat, wenn
jemand … Hat sie alles erzählt? Auch was hinterher passiert
ist?«
»Hinterher? Sie sagte, sie habe euch ausgeschimpft und in
getrennte Zelte geschickt.«
»Und das war alles?«
»War es das nicht?«
»O nein! Wir bekamen klar Bescheid, daß sie es entweder
unseren Eltern sagen würde, oder … Ja, sie müsse uns leider
bestrafen, hat sie gesagt und fies gegrinst!«
Ich spürte wieder das merkwürdige Gefühl in meiner Brust
aufsteigen. »Und dann …?«.
»Dann mußten wir mitkommen in ihr Zelt, zuerst Torild und
dann ich, und dasselbe mit ihr machen, was wir vorher – und sie
– als Strafe, verstehen Sie?«
Randi Furubø schnappte nach Luft wie ein Fisch an Land.
»Was sagst du da, Åsa?!« Sie sah mich an. »Und so was läuft
frei herum!«
Ich rieb mit der Hand den eigenwilligen Muskel in der Brust.
»Also habt ihr gelernt, eure Körper als Tauschware zu benutzen?«
Sie sah mich herausfordernd an und schwieg.
Randi Furubø zupfte vorsichtig an der Bluse ihrer Tochter.
»Åsa … Ich glaube fast, wir müssen …« Sie sah die Treppe
hinauf.
Mit einem letzten Blick auf Åsa murmelte ich: »Ich finde
allein hinaus.«
Keiner von ihnen begleitete mich zur Tür, aber sie blieben
stehen und sahen mir nach, wie um sich zu versichern, daß ich
auch wirklich ging und daß ich keine weiteren Überraschungen
aus dem Ärmel zauberte.
Vor der Tür stieß ich auf Helleve und Muus. Der Blick, mit
dem er mich ansah, ließ mich an den Vater von Michel in
Lönneberga denken: Veeeeum!!!!! Aber als ihm einfiel, welcher
Tag es war, nahm er sich zusammen, hob die Augenbrauen und
behielt den kühlen Ton: »Veum?«
Ich sagte so ruhig ich konnte: »Er hat schon alles gestanden.
Er tut es sicher auch vor euch.«
Sie blieben stehen und sahen zum Haus. »Furubø?«
Ich nickte. »Furubø.« Dann wandte ich mich an Helleve.
»Könnten Sie vielleicht so nett sein und Ihr Auto ein bißchen
weiter wegstellen, damit ich rauskomme?«
Von der Spitze des Birkelundsbakken hinunter entfaltete sich
das Bergensdal in seiner vollen Breite. Es war Zeit für einen
Frühjahrsputz. Die Stadt war bereit für die Reinigung in einem
Säurebad aus weißem Frühlingslicht. Aber der Frühling hat es
auch an sich, alle Fenster in einem selbst zu öffnen, auch die, die
man am liebsten für immer verschlossen halten würde.
Unten in Mannsverk standen junge Mädchen und warteten in
dichten, vertraulichen Trauben auf den Bus. Unwillkürlich kam
mir in den Sinn: Was war ihr Ziel? Wo wollten sie hin? Zu
einem verliebten Klassenkameraden, dem Vater der besten
Freundin oder zu einem alten Knacker in Damenunterwäsche,
der auf dem Boden herumkroch und von ihnen verlangte, sie
sollten …?
Aber das Leben war wie der Frühling. Es kam und ging.
Plötzlich ist es Herbst, und du mußt sterben. Dachten sie wohl
daran, wie sie dort standen und lachten? Dachten sie wohl
daran?
Eine von ihnen sah nach meinem Auto und zeigte darauf. Eine
andere zeigte mir den Stinkefinger, während eine dritte mit den
Händen in den Jackentaschen dastand und mir nachdenklich
nachsah, als ich vorbeifuhr, so langsam, als sei ich auf dem Weg
zu irgendeiner Beerdigung – so langsam, als sei irgend jemand
gerade gestorben.
Beim Fløyenbakken bog ich nach links ab.
Noch war es nicht Herbst.
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