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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur
Autoren: Irvin D. Yalom
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. .«
    Philip sprang auf und stürzte, die Hände vors Gesicht geschlagen, aus dem Raum.
    Sofort strebte auch Tony auf die Tür zu. »Das ist mein Stichwort.«
    Julius hielt Tony auf, während er sich ächzend ebenfalls erhob. »Nein, Tony, das übernehme ich.« Er ging hinaus und sah Philip am Ende des Flurs schluchzend mit dem Gesicht an der Wand stehen, den Kopf auf seinen Unterarm gestützt. Er legte Philip den Arm um die Schulter und sagte: »Es ist gut, alles rauszulassen, aber wir müssen wieder rein.«
    Philip schluchzte lauter, würgte, während er nach Luft rang, und schüttelte heftig den Kopf.
    »Sie müssen zurück, mein Junge. Das war doch Ihr Ziel, genau dieser Moment, und Sie dürfen ihn nicht vergeuden. Sie haben gut gearbeitet heute – genau so, wie Sie arbeiten müssen, um Therapeut zu werden. Die Sitzung dauert nur noch ein paar Minuten. Kommen Sie einfach mit und setzen Sie sich wieder zu den anderen. Ich passe auf Sie auf.«
    Philip drehte sich um, legte die Hand ganz kurz auf die von Julius, richtete sich dann auf und ging mit ihm zurück in den
Gruppenraum. Als er sich hinsetzte, berührte Pam ihn am Arm, um ihn zu trösten, und Gill, der auf seiner anderen Seite saß, umfasste seine Schulter.
    »Wie geht es Ihnen, Julius?«, fragte Bonnie. »Sie sehen müde aus.«
    »Psychisch geht es mir wunderbar, ich bin ganz hin und weg und bewundere, was diese Gruppe geleistet hat – ich bin sehr froh, dass ich daran teilhaben durfte. Körperlich – na ja, ich gebe es zu, fühle ich mich kränklich und schwach. Aber ich habe mehr als genug Kraft übrig für unser letztes Treffen nächste Woche.«
    »Julius«, fragte Bonnie, »dürfen wir zu unserem letzten Treffen eine Abschiedstorte mitbringen?«
    »Natürlich, bringen Sie eine Möhrentorte mit, wenn Sie wollen.«
     
    Aber es sollte kein formelles Abschiedstreffen geben. Am folgenden Tag überfielen Julius rasende Kopfschmerzen. Innerhalb weniger Stunden lag er im Koma und starb drei Tage später. Zu ihrem üblichen Montagstermin versammelte sich die Gruppe im Café und teilte sich die Möhrentorte in wortlosem Kummer.

»Daß in Kurzem die Würmer meinen Leib zernagen werden, ist ein
Gedanke, den ich ertragen kann, – aber die Philosophie-Professoren
meine Philosophie! – dabei schaudert’s mich.« Ref 146
41
Der Tod kommt zu Arthur Schopenhauer
    Schopenhauer sah dem Tod entgegen, wie er in seinem ganzen Leben allem entgegensah – mit äußerster Hellsichtigkeit. Nie schreckte er zurück, wenn ihn der Tod direkt anstarrte, nie ergab er sich zur Beruhigung dem Glauben an das Übernatürliche, sondern blieb bis zum Ende seines Lebens der Vernunft verpflichtet. Mittels Vernunft, so sagte er, erkennen wir, dass wir sterben müssen: Wir beobachten den Tod anderer und folgern daraus, dass er uns auch heimsuchen wird. Und mittels Vernunft gelangen wir zu dem Schluss, dass Tod das Ende des Bewusstseins und die nicht umkehrbare Auslöschung des Selbst bedeutet.
    Es gäbe zwei Möglichkeiten, dem Tod zu begegnen, meinte er: auf dem Weg der Vernunft oder dem Weg der Illusion und Religion mit seiner Hoffnung auf Fortbestehen des Bewusstseins und dessen Weiterleben in einem behaglichen Jenseits. Die Tatsache des Todes und die Furcht vor ihm erzeugten tiefgründige Gedanken und seien daher der Ursprung von Philosophie wie auch Religion.
    Schon früh rang Schopenhauer mit der Allgegenwart des Todes. In seinem ersten Buch, das er in seinen Zwanzigern verfasste, schrieb er: »... das Leben unsers Leibes (ist) nur ein
fortdauerndes gehemmtes Sterben, ein immer aufgeschobener Tod . . . Jeder Atemzug wehrt den beständig eindringenden Tod ab, mit welchem wir auf diese Weise in jeder Sekunde kämpfen.« Ref 147
    Wie schilderte er den Tod? In seinem Werk wimmelt es von Metaphern für die Begegnung mit ihm; wir sind Schafe, die sich auf der Weide tummeln, und der Tod ist ein Metzger, der nach Belieben eins nach dem anderen zum Schlachten auswählt. Oder wir sind wie kleine Kinder im Theater, die begierig darauf warten, dass das Stück beginnt, und zum Glück nicht wissen, was uns widerfahren wird. Oder wie Seeleute, die ihr Schiff tatkräftig um Felsen und Strudel herumnavigieren, während es doch unausweichlich auf die große, endgültige Katastrophe des Untergangs zusteuert.
    Immer beschreibt er den Lebenszyklus als eine unerbittlich verhängnisvolle Reise.
    »Welch ein Abstand ist doch zwischen unserm Anfang und unserm Ende: jener in dem Wahn der Begierde und
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