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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur
Autoren: Irvin D. Yalom
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schreibt er, wenn wir auf einen Friedhof gingen, an die Grabsteine klopften und die dort ruhenden Geister fragten, ob sie gern noch einmal leben möchten, würden sie sich alle entschieden weigern.« Sie wandte sich an Philip. »Glauben Sie das?« Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr Rebecca fort: »Also, ich nicht. Für mich spricht er
nicht. Ich würde gern mal die anderen hören. Könnten wir darüber abstimmen?«
    »Ich würde mich dafür entscheiden, noch mal zu leben. Das Leben ist fies, aber auch der Hammer«, sagte Tony. Ein Chor von »ich auch« wurde hörbar. »Ich zögere aus einem Grund«, erklärte Julius. »Wegen der Vorstellung, noch einmal den Schmerz über den Tod meiner Frau ertragen zu müssen; aber trotzdem, ich würde ja sagen. Ich liebe das Leben.« Nur Philip schwieg.
    »Tut mir Leid«, sagte er schließlich, »aber ich stimme mit Schopenhauer überein. Leben ist Leiden, von Anfang bis Ende. Es wäre besser, wenn es kein Leben gäbe, überhaupt kein Leben.«
    »Besser für wen ?« , fragte Pam. »Für Schopenhauer, meinen Sie? Offensichtlich für niemanden hier im Raum außer Ihnen.«
    »Mit dieser Meinung steht Schopenhauer wirklich nicht allein da. Bedenken Sie doch die Millionen von Buddhisten. Erinnern Sie sich daran, dass die erste von Buddhas vier heiligen Wahrheiten lautet, Leben sei Leiden.«
    »Ist das eine ernsthafte Antwort, Philip? Was ist aus Ihnen geworden? Als ich Studentin war, haben Sie auf brillante Weise philosophische Argumente vorgetragen. Und was soll das jetzt für ein Argument sein? Wahrheit per Verkündung? Wahrheit per Appell an eine Autorität? So macht es die Religion, und Sie sind doch sicher wie Schopenhauer Atheist. Ist Ihnen schon mal in den Sinn gekommen, dass Schopenhauer chronisch depressiv war und dass Buddha an einem Ort und zu einer Zeit lebte, wo menschliches Leiden – Seuchen, Hungersnöte  – allgegenwärtig war und das Leben für die meisten Menschen in der Tat Leiden bedeutete? Ist Ihnen schon mal –«
    »Was für ein philosophisches Argument soll denn das sein?«, konterte Philip. »Jeder halbwegs belesene Studienanfänger kennt den Unterschied zwischen Genese und Gültigkeit.«

    »Warten Sie, warten Sie«, warf Julius ein. »Machen wir eine kleine Pause und schauen uns mal um.« Er musterte die Gruppe. »Wie haben die übrigen von Ihnen die letzten Minuten empfunden?«
    »Die waren stark«, sagte Tony. »Die beiden haben sich richtig gefetzt. Aber mit gepolsterten Boxhandschuhen.«
    »Genau, besser als wortlose Blicke und heimliche Seitenhiebe«, meinte Gill.
    »Ja, mir hat das viel besser gefallen«, stimmte Bonnie zu. »Zwischen Pam und Philip flogen zwar die Funken, aber kühlere Funken.«
    »Mir auch«, sagte Stuart, »bis auf die letzten Momente.«
    »Stuart«, sagte Julius, »bei Ihrer ersten Sitzung hier erzählten Sie, dass Ihre Frau Sie beschuldigt, im Telegrammstil zu reden.«
    »Ja, Sie sind knausrig heute. Ein paar Worte mehr würden Sie doch nichts kosten«, meinte Bonnie.
    »Stimmt. Vielleicht bin ich schon auf dem Rückzug . . . weil dies ja das vorletzte Treffen ist, wissen Sie. Ich weiß es nicht genau – ich bin nicht traurig; wie üblich muss ich meine Gefühle ableiten. Aber etwas weiß ich, Julius. Ich bin begeistert von Ihrer Fürsorge für mich, von Ihrer Ansprache, Ihrer Anteilnahme an meinem Fall. Wie wär’s damit?«
    »Das ist großartig, und ich werde mich weiterhin bemühen. Sie sagten, Ihnen hätte das Gespräch zwischen Pam und Philip gefallen ›bis auf die letzten Momente‹. Also, was war mit diesen letzten Momenten?«
    »Zuerst klang alles noch recht freundlich – eher wie ein Familiengeplänkel. Aber diese letzte Bemerkung von Philip – die hatte einen boshaften Unterton. Ich meine die, die mit ›Jeder halbwegs belesene Studienanfänger‹ begann. Die hat mir nicht gefallen, Philip. Sie war herabsetzend. Wenn Sie das zu mir gesagt hätten, wäre ich beleidigt gewesen. Und hätte mich bedroht gefühlt – ich weiß nicht mal genau, was ein philosophisches Argument ist.«

    »Mir geht es genauso«, meinte Rebecca. »Sagen Sie, Philip, was haben Sie empfunden? Wollten Sie Pam beleidigen?«
    »Sie beleidigen? Nein, überhaupt nicht. Das hatte ich ganz sicher nicht vor«, entgegnete Philip. »Ich fühlte mich . . . äh . . . aufgerichtet oder erleichtert – bin mir nicht sicher, welches das richtige Wort ist –, als sie sagte, das Eisen sei nicht mehr glühend heiß. Mal sehen, was noch? Ich wusste,
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